Drei Meter über der Erden

…“drei Meter über der Erden
erfasst dich plötzlich die Idee,
du möchtest Seemann werden.“
( aus dem Ringelnatz Gedicht „ Am Hängetau“)

Nach einem mittelprächtigen Schulabschluss stand ich vor der Entscheidung eine Berufsausbildung anzugehen. In den 60-ziger Jahren gab es bei uns auf der Insel noch keinerlei berufliche Beratung. Natürlich hatte man sich im Kreise der Familie und der Schulfreunde Gedanken über das berufliche Fortkommen gemacht, doch eine tatsächliche Entscheidung war noch nicht gefallen. Lediglich meine Kunsterzieherin Frau H. Peters hatte mich dazu ermutigt, mein zeichnerisches Talent bei der Berufsauswahl in die Waagschale zu werfen. Doch diese hochtrabenden Pläne redete mir mein Vater mit Erfolg aus. Im Nachhinein muss ich ihm auch Recht geben. Meine Begabung reichte ganz sicher nicht für eine Ausbildung zum Grafiker, wobei ich auch keine Vorstellung hatte, wie diese Ausbildung überhaupt über die Bühne gehen sollte. Meine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn ich mich für eine Handwerkerlehre erwärmt hätte. Hinter meinem Rücken hatten sie dann auch schon Fäden zu einem örtlichen Elektromeister gesponnen. Meine fliegenden Klingelleitungen von der Haustür bis unter den Dachgiebel, zu den Unterkünften für uns Kinder und der Haustochter, haben sie wohl auf diese Idee gebracht, oder es waren die zahlreichen Kurzschlüsse, die ich bei der Bastelei mit einem alten Volksempfänger verursachte. Ernsthaft hatte ich diesen Beruf nie in Erwägung gezogen. Da legte ich dann auch lieber selber ein Veto ein. Die Mutter meiner ersten großen Liebe ( die Haustochter ) erweiterte dann das Berufsauswahlspektrum erheblich. Wenn wir damals ihrem Wunsch entsprochen hätten, wäre ich in dem väterlichen Betrieb Bäcker und Konditor in Hessen geworden.

Ausschlaggebend für meine Berufswahl waren dann unterschwellig einige Begebenheiten aus Kindertagen. Wobei Rudolf Kinau, der Bruder des deutschen Schriftstellers Gorch Fock, wohl wenig Eindruck auf mich gemacht hat. Ich wusste aus Erzählungen meiner Eltern, dass ich als kleiner Knirps (1947) bei einem seiner freundschaftlichen Besuche unserer Familie auf seinem Schoß herumgeturnt bin. Entschieden mehr Eindruck hat auf mich ein Gast unserer kleinen Pension „Haus Bruns“ gemacht. Mit Frau und Tochter reiste Mitte der 50-ziger Jahre Kommodore Adolf Ahrens aus Bremen an. Letzterer hatte bei Kriegsausbruch das Passagierschiff „Bremen“ des Norddeutschen Lloyds über New York und Murmansk heil zurück nach Bremerhaven gebracht. Ich bin vor Stolz dann beinahe geplatzt, als er mir bei Kakao und Kuchen auf der Marienhöhe im Beisein seiner Familie ein Buch über seine abenteuerliche Fahrt zur Konfirmation überreichte. Von seiner 1941 angeblich, wie die Nazis behaupteten, durch Brandstiftung vernichteten „Bremen“ (IV) habe ich Jahre später von meiner Mutter einen leicht beschädigten Aschenbecher bekommen. Es war ihr mehr als peinlich, als sie mir eingestehen musste, dass sie dieses Andenken 1928 bei einer Besichtigung des Schiffes entwendet hatte. Mittels Familie Ahrens habe ich dann zweimal einen tollen Urlaub auf dem Hof der Reiterfamilie Wiltfang im Emsland verbracht. Wobei ich aber keinen Hang zur Pferde – oder Bullenzucht entwickelte, damit entfiel auch der Beruf des Land – oder Pferdewirtes. Letztlich haben mich meine Eltern unbewusst mit Weihnachtsgeschenken bei meiner Berufswahl beeinflusst. Unter dem festlich geschmückten Baum lagen u.a. auch viele Seefahrtsgeschichten. „Sigismund Rüstig“( F. Marryat), die „Schatzinsel“ (R.L. Stevenson), der Seewolf (J. London), „Robinson Crusoe“ (D. Defoe), die Historie der Seeräuberei und natürlich die Bücher von Graf Luckner habe ich allesamt verschlungen.

Erwähnenswert ist sicher auch noch, dass meine Eltern die Gedichte, Geschichten und Bilder von Joachim Bötticher (J.Ringelnatz ) sehr schätzten. Mein Vater konnte in geselliger Runde beim Rezitieren eines „Kuddel Datteldu – Gedichtes“ durchaus dem Schauspieler G. Lüders das Wasser reichen. Er selber hat übrigens im Stile von Ringelnatz auch Gedichte und Zeichnungen geschaffen, die es eigentlich verdienten, veröffentlicht zu werden. (siehe im Anhang)

Wenn auch in der Ahnengalerie unserer Familie bis dato keine Seeleute verzeichnet gewesen waren, prangte über dem Sofa meiner Großeltern ein Ölgemälde mit dem Abbild des Fischdampfers “Heinrich Bruns“ in wild bewegter See. Mich hat es damals wenig interessiert, dass Großvater und Urgroßvater mütterlicherseits Anteile bei der Reederei Grundmann & Gröschel hatten. Die Einlagen müssen nicht unerheblich gewesen sein, weil zwei Schiffe der Hochseefischerflotte auf die Namen der Investoren „Diedrich Schmidt“ und „Heinrich Bruns“ getauft worden waren. Beide Schiffe überlebten als Vorpostenboote den zweiten Weltkrieg. Letzteres zum Leidwesen meines Onkels, der Erbe, der von den Alliierten annektierten und versenkten Kriegsbeute, bei den zuständigen Behörden der jungen Bundesrepublik vergeblich Regressansprüche stellte. Das Gemälde ist leider verschollen. Vermutlich fiel es dem Modernisierungswahn der 50-ziger Jahre zum Opfer.

Väterlicherseits habe ich Jahre später auch keine Seeleute in den Ahnentafeln aufspüren können. Aus den Erzählungen meines Vaters ging hervor, dass seine Jugend durch ständige Umzüge geprägt war. Großvater Pahl versah seinen Dienst als Zollamtmann in verschiedenen Küstenorten Schleswig Holsteins. Einer der Ur – oder Ururgroßväter soll Amtmann im heute dänischen Tondern gewesen sein. Auf keinen Fall ist es aber der von Detlef Freiherr von Liliencron in dem Gedicht „Pidder Lüng“ in Reimen besungene „Henning Pogwisch.“ Seltsamerweise habe ich als Schüler gerade aber diese Ballade, ohne eine Ahnung der familiären Wurzeln, mit Inbrunst auswendig gelernt. Neben dem gewaltsamen Ende des Amtmannes, haben mir damals wie heute die Friesenworte „Lever dood as slav“ imponiert. Die jugendlichen Kapitänsspiele waren harmloser Natur, solange sich das Spielgerät auf dem Trockenen befand. Beliebt und begehrt war ein Platz auf dem ausgemusterten Segelboot von Poppe Folkerts, das uns Kinder, aufgebockt im Garten des Malers, zu fantasievollen Reisen einlud. Gefährlich wurden die Spielereien in kalten Wintermonaten, wenn die dicken Eisschollen zu waghalsigen Fahrten einluden. Lange Bohnenstangen aus dem Garten von Schulrat Thiemens dienten uns als Staken. Abgesehen von ein paar Klumpen, das sind holländische Holzschuhe, die mein Freund Volker in einer Panikattacke auf seinem „Schiff“ zurückließ, gab es keine Verluste zu beklagen. In den damals wirtschaftlich schlechten Zeiten war es für seine Eltern sicher ein herber Verlust.

Direkte Kontakte mit dem Norderneyer Hafen und Schiffen haben meines Wissens keinen Einfluss auf meine Berufswahl gehabt. Natürlich übte der kleine Hafen unserer Inselgemeinde eine magische Anziehungskraft auf meine Freunde und mich aus. In unserer Fantasie war es ohnehin der Hafen aller Häfen. So habe ich als kleiner Junge bei einem Besuch in Bremen allen Ernstes behauptet, dass unser Inselhafen viel schöner und größer wäre als Europa – und Überseehafen zusammen. Geradezu abenteuerlich erschien uns eine Reise mit einer der Frisia – Fähren zum Festland. Unvergessen ist für mich der Blick durch die Skylights (Oberlichter) der Frisia I auf die unter Dampfschwaden arbeitenden Kolben, der blinkenden und blitzenden Maschine. Augenzeuge waren wir auch oft bei der Entladung der Kühe und Schweine für den örtlichen Schlachthof, der unterhalb des Wasserturms lag. Wobei zur Freude der jugendlichen Zuschauer das völlig verängstigte Viehzeug auf dem Weg zur Schlachtbank den Treibern ausbüxte oder auch im Hafenbecken landete. Nicht minder anziehend waren die letzten in Norderney beheimateten Fischkutter. Den Besatzungen begegneten wir mit Hochachtung. Wobei die Claussen-Brüder zu den letzten Originalen unserer Inselgemeinde zählten. Letzteres hielt uns nicht davon ab unbeaufsichtigt die Kutter zu entern und einige der im Winde schaukelnden und getrockneten Schollen zu stehlen und sie anschließend genüsslich zu verspeisen.

Der Inselhafen war auch Terrain meiner ersten Ausflüge mit einem Ruderboot. Wriggen lernt man dabei sehr schnell. Wenn uns die einsetzende Tide ungewollt auf das Watt oder die offene See versetzte. Trainingseinheiten in einem Rettungsboot lernte ich unter der Regie von Herrn Käsebier kennen. Mir ist heute noch nicht klar, welcher Teufel mich geritten hat, Mitglied der Marinejugend zu werden. Trotz einer tollen Kameradschaft habe ich den Drill und die sonntägliche Quälerei mit den ungelenken Riemen in dem Rettungsboot gehasst. Die Bundesmarine bzw. das Militär war für mich dann auch nie eine Alternative. Unvergessen bleibt auch ein Schulausflug zu der Nachbarinsel Spiekeroog. Während des Inselaufenthaltes entwickelte sich die frische Brise zu einem ausgewachsenen Sturm. Vor der Heimfahrt wurden Lehrer und Schüler auf eigenen Wunsch in mutige und nicht so mutige unterteilt. Ich habe mich leider völlig überschätzt und bin mit den anderen mutigen Ausflüglern auf die „ MS Rudolf“ gestiegen. Die Heimreise bei diesem stürmischen Wetter hatte zur Folge, dass Neptun heftig geopfert wurde. Neben mir stand an der Reling unsere von Seekrankheit gezeichnete Religionslehrerin. Auf dieser Fahrt lernte ich dann auch sehr schnell Luv und Lee zu unterscheiden. Am nächsten Tag waren die Schulbänke fast ausschließlich von den nicht ganz so Mutigen besetzt, die mit einem kleineren Schiff über die ruhigere Wattseite die Heimreise antraten.

Es wäre die halbe Wahrheit, wenn all diese Begebenheiten und Gefühle für meine Berufswahl herhalten sollten. Eine kleine Episode aus Kindertagen trifft den Kern meiner letztlich einsamen Entscheidung sehr viel treffender. Anlässlich eines Kindergeburtstages tobte eine ausgelassene Meute Kinder im Hause Bakker herum. Nach der Kuchenschlacht haben die Erwachsenen fluchtartig das Haus verlassen. Nur so war es möglich, dass eine aus der einsetzenden Langeweile geborene Idee in die Tat umgesetzt wurde. Das Interesse an dem unter Segel stehenden Modells eines Großseglers, aus dem Besitz des Großvaters, war bei uns Jungens riesig. Zumal es anscheinend kein Standmodell war. Ruder, Blöcke, Segel und das laufende Gut waren voll funktionsfähig. Große Überredungskünste bedurfte es dann auch nicht, den Segler zu einer Probefahrt an den Weststrand mitzunehmen. Die Segeleigenschaften dieses schönen Nachbaus waren vorzüglich. Bald wurde es uns zu langweilig, das Schiff quer zur Strandpromenade segeln zu lassen. Ruder und Segel wurden in Richtung Großschifffahrtslinie ausgerichtet und am Heck das Ende einer großen Rolle Drachenband befestigt, sozusagen die Rückreisegarantie. Mit leicht geblähten Segeln entschwand der stolze Segler in Richtung offenes Meer. Meter für Meter surrte die Drachenschnur durch unsere Finger und das Model reiste unbeirrt in den frühen Abend. Das Schiff wurde kleiner und kleiner und verlor sich schließlich am Horizont.

Die Rückholaktion misslang dann leider, weil unsere Absicherung stümperhaft gewesen sein muss. Über das Donnerwetter im Hause unserer Gastgeber ist nie ein Sterbenswörtchen verraten worden, jedoch fiel mir anschließend auf, dass meine Anwesenheit für weitere Feiern anscheinend unerwünscht war. Mich hat noch lange dieses faszinierende Bild des sich im Horizont verlierenden Seglers verfolgt.

… und ich habe der damals geweckten Sehnsucht über den Tellerrand hinweg zu blicken nachgegeben und bin Seemann geworden.

 

Erste Schritte in Richtung Seefahrt NEU!

Meine Berufswahl war mit dem Wunsch verbunden, der damals so empfundenen Enge der Inselheimat den Rücken zu kehren und einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Die Enttäuschung war dann riesig, als erst einmal mein Ausbruchversuch in Elsfleth an der Weser endete. Laut Ausbildungsverordnung musste der „Seemann in spe“, vor der in’s Auge gefassten Karriere, in einer der Seemannsschulen für ein Vierteljahr kaserniert und theoretisch auf seinen Beruf vorbereitet werden. Neben dem Schulschiff Deutschland in Bremen standen u.a. die Schulen in Elsfleth, Bremervörde und Travemünde zur Wahl. Nach einigen Telefonaten nahm mein alter Herr mir die Entscheidung ab. Sehr zu meinem Ärger hat er mich persönlich bei der Schulleitung abgeliefert. Eltern galten unter Halbwüchsigen auch damals schon als peinlich. Mag sein, dass er auch gleich das fällige Schulgeld bei der Direktion, dem Kapitän dieser Berufsschule, entrichtet hat. Die Formalitäten gingen im Büro von Herrn Gloystein schnell über die Bühne. Mein vorläufiges Zuhause in der ersten Etage im hinteren Gebäudeteil wurde mir zugewiesen. Das Zimmer teilte ich mit drei Schicksalsgenossen. Neben den zwei Doppelstockbetten wurde die spartanische Einrichtung durch vier Klamottenspinde und einem vor dem Fenster platzierten Tisch mit zwei Stühlen komplettiert. Meine Zimmergenossen machten mich gleich darauf aufmerksam, dass unsere Kammern in diesem Teil des Gebäudes als „Mittelwache“ bezeichnet würden. Die „Steuerbordwache“ befand sich direkt unter uns im Parterre des Nebengebäudes. Die „Backbordwache“ befand sich im unteren Teil des Hauptgebäudes, direkt neben dem Haupteingang und der Messe, mit angrenzender Kombüse. Die Einteilung der siebzig bis achtzig Berufsschüler in Wachen sollte ein wenig an den kommenden Dienst an Bord eines Schiffes erinnern bzw. vorbereiten. Unter den Aspiranten befanden sich auch ein gutes Dutzend befahrener Seeleute, denen die Aufstiegsmöglichkeiten und Prüfungen zum Matrosen verweigert wurden, weil die drei Monate „Mosesfabrik“ noch nicht, wie vom Gesetzgeber verlangt, abgeleistet bzw. in ihrem Seefahrtbuch vermerkt worden waren. In der Hierarchie der Berufsschüler standen diese „Befahrenen“ an erster Stelle. Es war schon eine Auszeichnung, wenn du einen dieser Jungmänner oder Leichtmatrosen aus der Backbordwache zu deinen Freunden zählen konntest. Jeder Wache stand ein Offizier oder Unteroffizier vor, wobei ich mir heute gar nicht so sicher bin, ob alle Ausbilder jemals mit Seewasser in Berührung gekommen sind. Bootsmann Hespe stand unserer Steuerbordwache vor und zeichnete sich in erster Linie durch lautstarke Schreierei aus. Wobei ständig die Gefahr bestand, dass sein schlecht sitzendes Gebiss sich im hohen Bogen verabschieden könnte. Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Backbordwache von Herrn Schriefer geleitet. Letzterer war unter den Auszubildenden sehr beliebt. Ansonsten sind mir die Namen unserer Lehrer entfallen. Abgesehen von einer Warnung: „Nehmt euch vor Kemper in Acht!“. Einer unserer Vorgänger ritzte diese Worte in eine Dachziegel unterhalb unseres Fensters. Diesen netten Zeitgenossen hatten wir im Unterrichtsfach Wetterkunde. Der Beruf meines Vaters, er war Dipl.-Meteorologe , verleitete ihn mehrmals dazu, mich in diesem Fach vor versammelter Mannschaft auflaufen zu lassen. Immerhin hatte es zu Folge, dass ich bis heute die Windpfeile in Wetterkarten lesen und deuten kann.

Die Aufteilung in Wachen brachte es mit sich, dass jeweils drei Jungen für die „Wachen“ abgestellt wurden. Rund um die Uhr wurden also das Gebäude und das Grundstück von uns bewacht, wobei es wenig zu bewachen gab. Eventuelle Ausreißer, die ein Tete-a-tete im Dorf hatten, wurden genauso, wie Spätheimkehrer geflissentlich übersehen. Übersehen wurde wohl auch der Übeltäter, der seine Notdurft vor der Tür des Wachoffiziers verrichtete. Nach diesem nie aufgeklärten Anschlag, wurden die Toilettentüren stillschweigend wieder eingehängt. Letztere waren tags zuvor auf Anordnung der Schulleitung ausgehängt worden, weil ein unverbesserlicher Klopoet Türen bzw. Wände während seiner Sitzung mit Sprüchen verschönt hatte. Der Ablöseturnus der Wachen erfolgte, wie bei der Seefahrt üblich, im vier Stunden Rhythmus. Äußerst langweilig und ermüdend war die Hundswache von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Aktiver wurde es für die Jungen in der 4 – 8 Wache. Ihnen oblag es, die Ausbilder, die in der Schule wohnten, zu wecken und vor dem Haupteingang des Schulgebäudes die deutsche Flagge aufzuziehen. Weniger rücksichtsvoll ging es anschließend vor dem morgendlichen Appell auf den Gängen der einzelnen Wachen zu. Mit viel Geschrei wurden wir aus den Federn geworfen. Wenn ich mich recht erinnere, mussten die eingesetzten Wachen auch halbstündlich die Glasenglocke vor der Außentür zur Messe schlagen, d.h. alle volle Stunde ein Doppelschlag , alle halbe Stunde ein einzelner Schlag. Man gewöhnt sich sehr schnell an diesen aus Segelschiffzeiten überlieferten Brauch, wenn durch die Bimmelei das Unterichtsende oder die Essensausgabe angekündigt wurde. Drei Doppelschläge und ein einzelner Schlag in den Vormittagsstunden, während der 8 – 12 Wache, gleichbedeutend mit der Uhrzeit 11-30 Uhr. Jahre später, während einer denkwürdigen Australienreise unter dem Kap Hoornier G. C lausen, erlebte ich tatsächlich noch einmal die praktische Anwendung dieser Zeitansage.

Vor dem Frühstück hatte die gesamte Mannschaft gestiefelt und gespornt in den wenig kleidsamen dunkelblauen Hosen und Matrosenjumper auf dem Hof anzutreten. Gleich zu Beginn des Lehrgangs waren wir alle mit diesen Arbeitspäckchen in zweifacher Ausführung ausgestattet worden. Mein Freund Eckart bezeichnete unser Aussehen im Einheitslook einmal ganz passend als „ Mao’s arme Verwandte“. Ein fürchterliches Donnerwetter gab es, als ein paar handwerklich begabte Jungen die Schlotterhosen in die damals heiß begehrten Schlaghosen umgearbeitet hatten. Landgang fand übrigens ebenfalls in diesem Outfit statt. Die Mädels im heiratsfähigen Alter konnten uns so nur allzu leicht von den Studenten der Seefahrtsschule unterscheiden. Findige Zeitgenossen entledigten sich während des Landgangs der lästigen „Decksjungenuniform“, indem sie auf dem Weg in das Dorf geheime Klamottendepots ansteuerten. Seeleute standen in diesem Städtchen an der Weser hoch im Kurs. Elsfleth eilte damals der Ruf voraus, dass es das „Dorf ohne Männer“ wäre. So ganz von der Hand zu weisen war diese Behauptung wahrscheinlich nicht, weil ein hoher Prozentsatz der männlichen Bevölkerung bei der Handelsmarine beschäftigt war. Viele spätere Verbindungen gingen aus diesen ersten Flirts mit Studenten und auch Schiffsjungen hervor. Auch ich erinnere mich gut daran, dass ich nach dreijähriger Ausbildung „ vor dem Mast“ ( Bezeichnung für den Dienst auf einem Schiff ) von einer jungen Dame angeschrieben wurde, die sich ganz unverblümt nach dem Beginn meines Studiums in Elsfleth erkundigte. Ich habe dann doch lieber die Seefahrtschule in Leer vorgezogen. Doch zurück zu den Anfängen an der Schule in Elsfleth.

Nach dem Frühstück in der Messe suchte man seine gleich bei der Einschulung zugeteilte Reinschiff – Station auf und brachte diese auf Vordermann. Mir war der Garten vor dem Schulgebäude zugeteilt worden. Allerdings bin ich diesen angenehmen Job sehr schnell wieder losgeworden, weil jeden Morgen eine Berufsschülerin, die spätere Briefschreiberin, ihren Weg zum Bahnhof für einen kleinen Schwatz an der Gartenhecke unterbrach. Es folgte eine Rüge vor versammelter Mannschaft und die Strafversetzung in den Klimagarten. Letzterer lag gut sichtbar für alle Lehrkräfte auf dem Hof zwischen Wohngebäude und Übungsschiff. Bei dieser Zuteilung hatte man wohl den Beruf meines Vaters im Hinterkopf. So habe ich fortan, bis zum Ende des Kurses, die Klimahütte mit dem Barographen, das Löffel – Anemometer, den Sonnenschein – Autograph, den Regenmesser und das Erdbodenthermometer entstaubt und geputzt. Wobei ich weder Barographenblätter einlegen noch Messdaten ablesen durfte.

Der eigentliche Unterricht befasste sich in erster Linie mit Theorie und Praxis in der Seemannschaft.
Wobei ich als Linkshänder in der Knotenkunde so meine Schwierigkeiten hatte, weil Bootsmann Hespe als Rechtshänder mir den Ablauf der nötigen Handbewegungen nicht vermitteln konnte. Näharbeiten, Draht – und Tauspleiße bereiteten mir ähnliche Schwierigkeiten. Trotz fehlendem Segelhandschuh für Linkshänder habe ich innerhalb dieser Ausbildungszeit einen ganz passablen Seesack aus Segeltuch zusammengeschustert. Mit Hilfe des Segelhandschuhs war es möglich eine dicke Nadel mit Garn durch das widerspenstige Segeltuch zu drücken. Praktisch mit einem Fingerhut zu vergleichen, dessen Metallfläche in der Handinnenfläche fixiert ist. Bei den Versuchen die Enden von ziemlich ausgeleierten Festmacherdrähten zu Augspleißen zu bändigen, gab es ab und zu Verletzte, wenn die Stahlspitze des Marlspikers abrutschte und sich in den Oberschenkel bohrte.

Das sogenannte Übungsschiff im Hof der Schule, gegenüber meines Klimagartens, hat nur wenig Ähnlichkeit mit einem Schiff. Lediglich ein Mast mit zwei Ladebäumen, eine auf den Rasen gesetzte Reling, eine mit Holzdeckeln und einer Persenning abgedeckte und verschalkte Luke erinnerte wenig an ein Stückgutschiff. Bei diesem Provisorium wurden auch nur mit den Geien die Ladebäume in die eine oder andere Richtung gezerrt.

Ein weiterer Teil der praktischen Ausbildung befasste sich ausgiebig mit der Handhabung der damals noch üblichen Ruderrettungsboote. Zu diesem Unterricht gehörte erst einmal der Anmarsch von der Schule zum Bootsanleger an die Hunte, unterhalb der Seefahrtschule gelegen. ( Für die Bürger von Elsfleth liegt ihr Städtchen an der Weser.) Eine anstrengende Geschichte, weil die schweren und unhandlichen Riemen bei diesem Marsch geschultert wurden. Die hölzernen Rettungsboote hingen in den damals üblichen Schwenkkraftdavits. In luftiger Höhe wurden neben den einzelnen Ruderkommandos das richtige Abrollen der Riemen in den Klappdollen bzw. Szepter geübt. Ein ungeschriebenes Gesetz in der Schule besagte, dass ein Schiffsjunge, der beim normalen Pullen einen Riemen zum Durchbrechen brachte, einen freien Tag in Anspruch nehmen konnte. Diese Vergünstigung ist mir leider nie zu Teil geworden. Allerdings ist es uns bei einer der ersten Fahrten gelungen, Bootsmann Hespe an der Ruderpinne durch wildes Anrudern aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit Mühe konnte er ein ungewolltes Bad verhindern. All seine Schreierei nutzte letztlich gar nichts, seine Dienstmütze entschwand in der gurgelden Hecksee unseres Rettungsbootes. Noch größeren Ärger bereitete ihm die Tatsache, dass wir am Ende der Ausbildungszeit die traditionelle Ruderregatta zwischen den Wachen nicht gewinnen konnten.

Während der freien Wochenenden konnte man nach einer hochnotpeinlichen Inspektion der Fingernägel, des Haarschnitts und der Kleidung durch den wachhabenden Offizier oder Unteroffizier nach Hause fahren. Vermutlich wurde auch noch das Reisegepäck gefilzt. Es hält sich auch hartnäckig das Gerücht, dass man vor dem endgültigen Reisebeginn die Kompassrose in Viertelstricheinteilung aufsagen musste. Ich selber kann mich nicht daran erinnern, weil mir die Bahnreise über Hude, Bremen, Oldenburg nach Norddeich zu umständlich und zu teuer war. So waren die Wochenenden relativ öde. Abgesehen von dem Nachtleben von Elsfleth, was sich damals auf zwei Gaststätten und eine Eisdiele beschränkte. Die Kneipe „Kap Hoorn“ machten wir auf Grund unseres zahlreichen Erscheinens mit Erfolg den Studenten der Seefahrtsschule streitig. Eine beliebte Freizeitbeschäftigung waren auch die Badeausflüge an die Weser. Trotz ausdrücklichen Verbots schwammen wir gerne zu einer im Fluß liegenden Insel oder mit dem Ebbstrom bis Hammelwarden, ein Dorf fünf Kilometer stromab.

Nach der dreimonatigen Ausbildungszeit fand eine theoretische und praktische Prüfung statt, die natürlich von allen Lehrgangsteilnehmern mit Bravour bestanden wurde. Der Verband Deutscher Reeder als Mitfinanzier dieser Einrichtungen hatte wahrscheinlich kein Interesse an einer hohen Durchfallquote. So mussten, während dieser drei Monate, nur einige Brillenträger von der erträumten Karriere Abschied nehmen. Mit Hilfe der Schulleitung wurden die ersten Bewerbungen bei den deutschen Reedereien auf den Weg gebracht. Mit ein wenig Neid musste ich feststellen, dass einige meiner Mitstreiter noch in Elsfleth einen Heuerschein für ihren ersten Einsatz in den Händen hielten. Mein erhoffter Arbeitgeber, der Norddeutsche Lloyd, ließ erst einmal auf sich warten.

Mit der Schulabschlussbescheinigung im ersten Seefahrtbuch ging es erst einmal in Richtung heimatliche Insel Norderney.