Ein Oktopode und die letzte Reise von „Z–Hagen“

Auch bei Hapag-Lloyd gab es beliebte und weniger beliebte Fahrtgebiete. Eng damit verbunden  natürlich die Namen der Kapitäne und der Schiffe. Zu Beginn meiner Ausbildungszeit war die Australien-Fahrt verpönt, weil man nach Möglichkeit dem Dreiergespann Wachtel, Jäger und Clausen aus dem Weg gehen wollte. Der unter den Seeleuten kursierende Spruch „Wachtel, Jäger, Clausen – lasst uns schnell vorüber sausen“ sprach nicht gerade für die Kapitäne dieses Namens. Häufig war aber auch das Fahrtgebiet und die anstehende Anmusterung  Anlass für Ausflüchte jeglicher Art. Um der ungeliebten Nordatlantik –Fahrt (Ostküste Nordamerika) und dem damit verbundenen ewig schlechten Wetters zu entgehen, haben meine Großeltern im Laufe der Jahre gleich mehrfach das Zeitliche gesegnet. Familienfeiern und Jubiläen wurden natürlich auch gerne als Ausrede und Hinderungsgrund benutzt. Schwieriger wurde es bei Krankheitsausfällen, weil der Hausarzt nur selten den gelben Schein wegen heftigen Widerwillens ausstellte. Selten genug gelangen diese Manöver. Im Heuerstall (Musterungsbüro) saßen durchweg alte Fahrensleute.

Neben den unbeliebten Reiseleitern (Kapitänen) und den wenig anziehenden Fahrtgebieten gab es noch eine dritte Kategorie, die Hein Seemann bei einer anstehenden Anmusterung zögern ließen. Einigen Schiffen der Hapag-Lloyd AG haftete ein denkbar schlechter Ruf an.

So war bei den Lloyd-Fahrern die Ravenstein-Klasse als Arbeitsschiffe verschrien, weil diese Viermaster unter Anderem eine Unzahl von Ladebäumen vorweisen konnten. Ähnlich erging es der Friesenstein-Klasse. Diese in den Augen der Seeleute total verbauten Südamerikafahrer wurden recht unfein als „Contergan-Schiffe“ betitelt. Im Vergleich zu den Indonesien Schiffen der Hapag konnte man diese Abneigung schon verstehen. Wobei Vorurteile und Aberglaube häufig Pate bei der Beurteilung standen.

So ganz frei konnte ich mich von diesen Vorverurteilungen bei meiner anstehenden Anmusterung auf dem Frachter „Hagen“ auch nicht machen. Eilten doch haarsträubende Geschichten diesem Schiff voraus. In der Flotte trug der Spitzname Z-Hagen (Z=Zerstörer) nicht gerade zu einer vertrauensbildenden Meinung bei. Das Pech klebte diesen Zentralamerika-Fahrer geradezu an den Planken. Auf der Jungfernreise soll es in der Straße von Dover mit einem Unterwasserhindernis, einem unter der Wasseroberfläche treibenden Wrack, kollidiert sein. Die mit diesem Schiff verbundenen Unglücke sollen zur Serie ausgewachsen sein. So war das Unbehagen bei der Anmusterung vielleicht sogar verständlich.

Doch Besatzung und Fahrtgebiet verdrängten bald dieses ungute Gefühl. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir ein ausgesprochen lustiger Haufen. Gleiche Interessen schmieden bekanntlich ja auch zusammen. Einer der Offiziersanwärter hatte zwei Surfbretter mit auf die Reise genommen. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass während der Fahrt zum Panama-Kanal erste Stehübungen auf den Brettern in unserm winzigen Pool gemacht wurden. Das so genannte Schwimmbad war wie üblich während der längeren Seereise an Deck aufgebaut worden. Die Grundkonstruktion bestand aus altem Stauholz und wasserdichtem Segeltuch, so genannten  Persenningen. Die erfolgreiche Schulung verführte bei Ankunft in Cristobal Panama zu einem Surfausflug auf den Ga`tun-Lake. Wobei die Fahrt mit dem Taxi und den aufgebockten Brettern wohl voller Hindernisse und abenteuerlich gewesen sein muss. Zumindest waren bei Abfahrt des Schiffes unsere Surfer überfällig. Mit Hilfe der Kanalbehörden und einem schnellen Lotsenboot wurden unsere Wassersportler dann Stunden später in der ersten Kanalschleuse wieder bei uns an Bord  abgeliefert.

Nicht unterschlagen möchte ich natürlich einen Landgang in Cristobal. Wobei wir durchaus beherzigten, dass man dieses nicht ungefährliche Pflaster nur in Gruppen betreten sollte. Den Überfall auf unsern Storekeeper (Lagerverwalter in der Maschine) in einer Apotheke konnten wir dann doch nicht verhindern. Den Rest des Abends mussten wir ihn freihalten. Größere Sorgen hatten wir mit unserem Funker, der sich etwas angesäuselt nicht von den Damen verschiedener Kneipen trennen wollte. Wahrscheinlich hat er schon während dieses Landgangs seinen Spitznamen bekommen. Zumindest bewegten sich seine Hände ähnlich den Fangarmen eines Oktopoden. Aus Oktopus wurde dann im Laufe der Reise der geläufige Name „Okki“.

Auf der Reede von Puntarenas (Costa Rica) haben wir die Wartezeit mit Surfunterricht  überbrückt. Wobei die Schwimmeinlagen nach Stürzen immer nur von kurzer Dauer waren. Das Gerücht von Haien in der Bucht hielt sich wohl hartnäckig in den Köpfen der Surfsportler. Das uns ständig umkreisende Motorboot trug nicht unbedingt zur Sicherheit und Gelassenheit bei.

Der abendliche Landgang fand großen Anklang bei der Besatzung. Mittels einer Barkasse erreichten wir schnell unser Ziel. Mit von der Partie war natürlich Okki – und er machte seinem Namen wieder alle Ehre. Um Mitternacht, zur letzten Abfahrt in Richtung Schiff, wollte er sich nicht von der holden Weiblichkeit trennen. Unsere Überredungskünste fruchteten nicht und so blieb er denn allein mit all den hübschen Mädels zurück.

Pünktlich zum Frühstück des nächsten Tages erschien er dann in der Messe. Wobei sein Aussehen für einiges Aufsehen sorgte. Arme, Hände, Hals und Gesicht waren schwarzstreifig und mit hektischen roten Striemen überzogen. Ihm war es mehr als peinlich die Herkunft dieser Verunstaltungen zu gestehen. So war es ihm kurz nach unserer Verabschiedung in der Kneipe trotz der verführerischen Weiblichkeit langweilig geworden. Doch sein Spurt zum Hafen war nicht erfolgreich. Er sah von der abfahrenden Barkasse nur noch das Hecklicht. Eine andere Mitfahrgelegenheit  wurde ihm nach kurzer Fragerei von den Hafenarbeitern geboten, die während der Nachtstunden Ladung aus der Luke 1 unterhalb der Back löschen mussten. Mit einer geschleppten Barge (Schute) machte er sich also auf den Heimweg. Trotz seiner Proteste endete die Fahrt dann auch wie von den Schauerleuten geplant unterhalb der Luke. Unmöglich per Leiter oder Seil an Deck und in die so ferne Koje zu kommen. Nach einiger Ruferei (wohl mehr Bettelei) erbarmten sich dann die Arbeiter und ließen an dem Ladegeschirr eine Netzbrook (Taunetz zum Aufhieven von Lasten) zu ihm herab. Das Netz schlug beim Aufhieven über seinem Kopf zusammen und wie mit einem Fahrstuhl landete er kurze Zeit später an Deck. Angeblich hatten sich seine Helfer noch einen Spaß gemacht und ihn absichtlich auf halber Höhe in seinem luftigen Netz hängen lassen. Doch diese Variante sollte wohl nur von seinem eigentlichen Malheur ein wenig ablenken. Erst in seiner Kammer stellte er mit Entsetzen fest, dass Kleidung und alle freien Körperpartien schwarz eingefärbt waren. Bei der Dunkelheit war ihm nicht aufgefallen, dass mit seinem Lift, der Netzbrook, Druckerschwärze (carbon black) gelöscht wurde. Diese Farbe hält selbst der härtesten Wurzelbürste stand.

Seine Missgeschicke sollte man nicht unbedingt dem schlechten Ruf der Hagen anlasten. Doch er selbst kam immer mehr zu der Überzeugung, dass es da schon Zusammenhänge geben könnte. In Corinto (Nicaragua) ereilte es ihn gleich zweifach. Ich konnte ihn bei einem Badeausflug nicht davon abhalten meine Versuche im Wellenreiten (bodysurfen) vor den Augen der mitgekommenen Stewardessen auch auszuprobieren. Anschließend behauptete er dann aufgebracht, dass ich ihn hätte ertränken wollen. Auch er hatte die Kraft und die Höhe der einlaufenden Brandung völlig unterschätzt.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er dann mit der holden Weiblichkeit am Strand in einer von steilen Felswänden umrahmten Bucht. Zu seinem Entzücken entdeckte er dann auch noch einen Wasserfall, der zum Duschen einlud. Seinen fatalen Irrtum bemerkte er erst, als die ersten Toilettenabwässer auf seinen Kopf prasselten.

Auf der Heimreise bekamen wir aus Hamburg die Nachricht, dass unsere schöne Hagen an die Rotchinesen verkauft wurde. Es folgten die ersten Aufräum- und Ausräumarbeiten. Dabei entdeckten wir ein altes Tagebuch, welches die gruseligste Geschichte über dieses Schiff bestätigte. Dank Okkis Initiative entging dieses Dokument des Grauens der Vernichtung.

Eine Eintragung bestätigte die Geschichte, dass unser Schiff während einer Fahrt über den Nordatlantik  über den Sonarturm eines auftauchenden Atom-U-Bootes gefahren war. Ein Matrose des amerikanischen U-Boots hatte sich bei  dieser ungewollten Begegnung den Arm gebrochen. Auf der Hagen war Dank der Schotten  nur der Laderaum 2 abgesoffen und das Hauptdeck Achterkante dieser Luke verbogen. Durch das eindringende Seewasser quoll eine Ladung Zellulose auf und bereitete später  immense Schwierigkeiten bei den Löscharbeiten derselben.  Die Kontrahenten wurden unter größter Geheimhaltung zur Reparatur nach Newport News in Verginia  eskortiert.

Unter riesigen Sichtschutzplanen haben dann die Militärs die demolierten Reste des  Sonarturm im Doppelboden der Hagen gesucht und geborgen.

Für die gruselige Pointe sorgte der Ingenieur Assistent , der seine mitreisende Lebensgefährtin von Sankt Pauli wegen diverser Seitensprünge während dieser Werftzeit den Garaus machte. Über den weiteren Verlauf dieser Geschichte war natürlich nichts in diesem Schiffstagebuch vermerkt.

Den  Schlusspunkt dieser Häufung an Katastrophen erlebten wir kurz vor der Übergabe an die Rotchinesen in Rotterdam. Der Fahrer eines Gabelstaplers  kippte sich beim Löschen von Holz ein Bündel auf den Kopf.

Ohne große Trauer haben wir uns von Z-Hagen in Hamburg verabschiedet.

Okki hat die Surfergemeinde auf meiner Heimatinsel noch häufig mit seinem Segelboot heimgesucht. Auch auf Norderney war sein Hang zur holden Weiblichkeit bald im Gespräch.

Eigentlich hätte es ihn daher nicht verwundern dürfen, dass eines Tages sein Surfbrett mit einem wunderschönen Oktopoden in Öl  bemalt war. Wobei er nur entsetzt bemerkte: „Wie erkläre ich das meiner Frau“