Hühner-Harry und die Rache an einem ungeliebten Reiseleiter

Als Ruheständler wird die Arbeit eigentlich nicht weniger. Ich habe zumindest den Eindruck, dass ich überhaupt keine Zeit mehr habe. Lediglich der Arbeitsbereich bzw. die Beschäftigungen ändern sich. Neben den nun mehr intensiv gehegten und gepflegten Hobbys wird man an die vielfältigen Aufgaben eines Haushalts herangeführt. Dabei haben sich bei einigen Dingen nur Kleinigkeiten gegenüber den früheren Tätigkeiten geändert. So ist der Ärger über rotzige Fahrgäste dem Ärger über Drängler und mürrischen Kurgästen beim Anstehen an der Ladenkasse gewichen. Als „Hausfrauenbeauftragter“ hat man oft keinen leichten Stand. Wobei man nicht verschweigen sollte, dass man auch die kleinen Freuden dieser Tätigkeit durchaus auskosten kann. Der kleine Schwatz an der Ecke, mit einer echten Hausfrau oder einem Leidensgenossen ist so informativ, dass man das Abo des Norderneyer Käseblattes eigentlich getrost kündigen könnte.

Bei einer dieser zufälligen Begegnungen lief mir der Sohn eines früheren Funkers des Norddeutschen Lloyds bzw. Hapag Lloyds über den Weg. Die Frage nach dem Wohlergehen seines alten Herrn beantwortete er nur zögernd. Dabei gab der Gesundheitszustand keinen Anlass für größere Klagen. Die Langeweile, so schälte sich im Laufe des Gesprächs heraus, war wohl das größere Problem. Ob nun meine Ratschläge hinsichtlich Hobbys auf fruchtbaren Boden gefallen sind, mag dahin gestellt sein. Während meiner gut gemeinten Tipps und der mehrfachen Erwähnung des Norddeutschen Lloyds mischte sich ein Passant in unsere Gespräch ein. Es stellte sich heraus, dass der nette ältere Herr als Koch bei der Hapag und bei Hapag-Lloyd gefahren war. Bei der Erwähnung meines absoluten Star- und Lieblingkochs Walter Köwings sagte er nur schlicht: „Und das bin ich!“

Dieses unverhoffte Wiedersehen nach über dreißig Jahren haben wir an einem Nachmittag bei uns in der Georgstraße vertieft und alte Geschichten aufgefrischt.

Eigentlich hatte ich die Reise mit der „Hattingen“ und seinem damaligen Reiseleiters, unserem Kapitän, an den äußersten Rand meiner Seefahrtserinnerungen geschoben. Es ist ja nur allzu menschlich nicht so schöne Reisebegebenheiten in den hintersten Winkel des Gedächtnisses zu verstauen. Die Fahrt mit Hühner- Harry gehörte zu einer dieser absolut negativen Erinnerungen. Doch die zufällige Begegnung und der anschließende Schwatz auf unserer Gartenterrasse ließ die Reise nach Zentralamerika wieder aufleben.

Der Sommer 79 war eigentlich für den Urlaub auf meiner Heimatinsel Norderney verplant. Rein rechnerisch, wenn ich meine mir zustehenden Urlaubstage addierte, hätte ich bis in den Oktober hinein, neben den häuslichen Pflichten, viel Zeit mit der Surferclique verbringen können. Doch der Heuerstall in Hamburg hatte leider andere Pläne mit mir und meiner Freizeit. Die nicht sehr fantasievollen Ausreden fruchteten auch diesmal nicht. So reiste ich schon mit einer denkbar schlechten Laune in die schöne Hansestadt. Mit dem Heuerschein ging es diesmal zur Werft Blohm + Voss. Mein neues Zuhause wurde an der Ausrüstungspier erst einmal auf Hapag-Lloyd getrimmt. Bei meiner Ankunft verschwand der alte Name Hornwind unter einer dicken Schicht Farbe und machte dem neuen Namen Hattingen Platz. Der Erwerb dieses Schiffes durch meinen Brötchengeber wurde durch das Ummalen des Schornsteinmarke in Hapag-Lloyd Farben, der „schwarz-weiß-rot-gelben Ringelsocke , “ auch äußerlich sichtbar gemacht.

Die gesamte Mannschaft hatte man übrigens aus dem wohlverdienten Urlaub geholt. Letzteres schlug sich auf die allgemeine Stimmung nieder. Lediglich das Reiseziel Mittelamerika stimmte ein wenig versöhnlich. Nach dem flüchtigen Studium der Besatzungsliste gab es dann einen Grund für aufkommende Freude. Mit W. Köwing stand einer der absoluten Spitzenköche der Reederei in der Kombüse. Allein bei der Nennung dieses Namens läuft mir noch heute das Wasser im Munde zusammen. Seine kulinarischen Meisterwerke durfte ich schon in der Indonesien- und Ostasienfahrt genießen. Für das leibliche Wohl der kommenden Reise würde dieser ruhige und besonnene Vertreter seiner Zunft schon sorgen. Um so verwunderter war ich, als mir auf meinem Weg zur Kombüse ein heftiger Wortwechsel entgegen brandete. Sekunden später eilte bzw. rannte mit und hochrotem Kopf unser Kapitän wort- und grußlos an mir vorüber. Unser Walter stand zornbebend mit einem Messer in der Kombüsentür. Wobei er sich nach unserer Begrüßung durchaus nicht zu dem Grund des Streites äußerte. Auch nach über dreißig Jahren waren seine Erinnerungen an diese Szene nur sehr verschwommen. Vehement widersprach er aber dem über Jahre gehegten und gewachsenen Gerücht, dass er beim Auslösen von Koteletts von unserm Alten durch eine Frage hinsichtlich der Sauberkeit seines Reiches auf die Palme gebracht wurde. Der Wortwechsel und die als bedrohlich empfundene Fuchtelei mit dem Auslösemesser sollen dann den Reiseleiter zur panikartigen Flucht veranlasst haben. Der Grundstein für diese gehegte und gepflegte Feindschaft liegt aber dieser Streit zu Grunde. Vertieft wurde sie durch die völlig aus der Luft gegriffenen Behauptung, dass Walter den festgesetzten Proviantsatz pro Mann und Nase überschreiten würde. Vermutlich reichte die Vorstellungskraft von Hühner-Harry nicht aus, dass man mit den von der Reederei zugestandenen Mitteln solche kulinarischen Genüsse zaubern könnte.

Wie fast alle Besatzungsmitglieder hatte auch ich meine Differenzen mit diesem Mann. Lediglich der erste Offizier hielt ihm notgedrungen die Stange. Der Alte hatte wohl spitz gekriegt, dass er ab und an zu tief ins Glas schaute. Mir selber ist dieser Umstand erst aufgefallen, als ich während einer nächtlichen Seewache auf der Brücke mich mit seiner, statt meiner Wasserflasche bediente. Eine Ursache für die ewige Besserwisserei und Rechthaberei unseres Kapitäns könnte gewesen sein, dass Frau und Tochter mit von der Partie waren. Wobei die beiden netten Damen häufig vergeblich versuchten ihn auszubremsen und die Streitereien in ruhigere Gewässer zu lenken. Rückblickend hatte ich neben ein paar albernen Querelen nur einen wirklichen Grund für einen Disput mit ihm. Trotz meines Widerspruchs und guter Argumente pfuschte er mir in mein Metier und warf den Beladungsplan in einem Hafen Guatemalas völlig über Kopf. Die Quittung folgte auf dem Fuße. Trotz aller Bemühungen konnten wir die Vertrimmung des Schiffes mit den Ballasttanks nicht ausgleichen. Kopflastigkeit und der viel zu große Tiefgang erlaubten es nicht in Puntarenas/Costa Rica an der Stichpier unsere Kaffeeladung zu übernehmen. Wir blieben vor Anker auf der Reede liegen und mussten die Fracht über Leichter verladen. Als ziemlich unverfroren habe ich es empfunden, dass er mit einer dreisten Lüge mir die ganze Schuld an diesem kostspieligen Dilemma gab.

Doch Gottes Mühlen mahlen bekanntlich langsam. An einem Tag der Heimreise erschien die ganze Sippe des Alten nicht zum Frühstück, auch in den späten Vormittagsstunden wurde keiner der Familie gesichtet. Erst ein zaghafter Pfiff auf der Brücke machte auf seine Situation aufmerksam. Wobei man erklärend erwähnen sollte, dass der Salon des Kapitäns mit der Brücke durch eine direkte Rohrleitung verbunden war. Auf dieses für Notfälle gedachte Sprachrohr ist auf beiden Seiten eine Pfeife gesetzt, die man mit einem kräftigen Puster aktivieren kann. Der Hilferuf aus dem Kapitänsalon löste hektische Aktivitäten aus. Mit viel Gefeixe und Geläster entfernten die Helfer die Klebestreifen, die in einer doppelten oder auch dreifachen Schicht ein Öffnen der Tür unmöglich machte. Ein zweiter Arbeitstrupp reinigte derweil die schwarz eingefärbten Fensterscheiben seiner Unterkunft. Der Elektriker hatte einige Mühe die Funktionsfähigkeit des Bordtelefonnetzes wieder auf Vordermann zu bringen. Nachforschungen bzw. intensive Fahndungen nach den Tätern bzw. dem Täter blieben seltsamerweise aus. Der Alte behauptete seiner Familie gegenüber, dass es sich um einen bei der Seefahrt üblichen Streich handele, der mit einem nicht gezahlten Einstand in Zusammenhang stände. Mit einem Fass Bier würde man eine solche Situation bereinigen können. Uns war diese eigentlich erfreuliche Auslegung allen sehr neu. Der daraufhin angesetzte Umtrunk verlief im engsten Familienkreis sehr ruhig. Bis auf den 1.Offizier waren der restlichen Besatzung andere Dinge an diesem Abend wesentlich wichtiger. Ich selber zog es vor bis zum Antritt meiner Hundswache (00-00 bis 04-00) eine Mütze voll Schlaf zu nehmen.

Vermutlich hat er in seiner absoluten Selbstüberschätzung diesen Wink mit dem Zaunpfahl bei Seite geschoben und sich und seiner Familie eine passende Erklärung geschneidert.

Ach ja, den Spitznamen dieses Mannes wollte ich ja noch erwähnen. Auf einem anderen Schiff soll auf seine Anordnung hin die gesamte Ladung eines Kühlcontainers, dessen Kühlsystem ausgefallen war, mit vereinten Kräften in die bordeigenen Provianträume gestaut worden sein. Es soll sich um eine der großen 40 Fuß Boxen gehandelt haben, in denen tausende von gefrorenen Hähnchen Platz finden. So ganz gut war die Idee, diese Unmenge von tief gefrorenen Hähnchen umzustauen nicht. Ein Teil der Ladung taute an oder auf. Mit der zuständigen Versicherung soll es auch noch mächtigen Ärger gegeben haben. Wie auch immer, fortan firmierte er unter dem Namen „Hühner Harry“.

Ganz üble Zeitgenossen sollen nach dieser Affäre in Kingston/Jamaika auf einem Wochenmarkt einen gehbehinderten Hahn gekauft haben und diesen vor dem Offiziersalon des Schiffes mittels Hühnerfutter in Position gehalten haben. Nicht ganz unabsichtlich war es, das Geschehen mit unterdrückten Gelächter und Geräuschen über die Bühne gehen zu lasen. Zumindest ließ sich der Alte dazu verleiten, der Störung auf den Grund zu gehen. Nach dem Öffnen der Tür stand er diesem gehandikapten und bemitleidenswerten Hahn gegenüber, dem man ein Schild mit der Aufschrift „My name is Harry“ umgehängt hatte.