Organisationstalente

In dieser Story soll nun soll von den „Daltons“ die Rede sein. In den Polizeiakten unserer Inselgendarmerie lautet der Name natürlich anders und die ganze Familie wird als unverbesserlich kriminell geschildert, wenn man den nüchternen Schilderungen der Tatbestände Glauben schenkt. Nach den Regeln der Gesetze haben die geplagten Beamten ohne Frage Recht mit ihrer Behauptung. Weniger penible Außenstehende und nicht direkt Betroffene konnten sich bei den Untaten dieses Familienclans ein Schmunzeln nicht allzu oft verkneifen. Hinter der vorgehaltenen Hand wollten einige Mitbürger sogar wissen, dass sie entschuldbare Opfer unserer auf immer mehr Besitz programmierten Konsumgesellschaft geworden sind. Da der Kreis der Betroffenen verhältnismäßig groß ist – und ein Ort in der Größe unserer Inselgemeinde ein Netz von verwandt – und bekanntschaftlichen Verbindungen aufweist, ist die Sympathisantenszene überschaubar klein. Ich selber nun möchte meine persönliche Meinung dem Leser nicht aufdrängen, lassen wir doch die Fakten sprechen.

Der Name „Daltons“ ist einer amerikanischen Comic–Serie entliehen und somit fast schon wieder eine Auszeichnung für die von den „Daltons“ geplagten Mitbürger. Es ist eine etwas gequälte Bewunderung für einen heute selten gewordenen Zusammenhalt, der diese Familie auszeichnete. Über die Kopfzahlstärke streiten sich die Gemüter. Neben dem Vater und der Mutter wimmelte da eine Vielzahl von Kindern. Es fällt auch schwer, die genaue Anzahl zu bestimmen, da alle Mitglieder des Clans eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit aufwiesen. Das langgezogene rotznasige Gesicht mit den strähnigen blonden Haaren ist den weiblichen wie auch den männlichen Angehörigen der „Daltons“ eigen. Geradezu ein Markenzeichen sind die übergroßen und zu allem Überfluss auch noch abstehenden Ohren. Mag sein, dass neben ihren unterschiedlichen beurteilten Talenten gerade die Ohren ihnen den Namen „Daltons“ eingetragen haben. Gerüchte besagen übrigens, dass die Vielzahl der Kinder Absicht bei der Familiengründung war. Man erzählt, dass die Mutter in den ersten Jahren ihrer Ehe in einem Selbstbedienungsladen bei dem Überangebot an Waren mehrfach schwach geworden, bzw. ganz einfach die Aufforderung zur Selbstbedienung zu wörtlich genommen hatte. Beim gründlichen Aufräumen in der Wohnung ihres damaligen Arbeitgebers hatte die Geduld der örtlichen Polizei und der Justiz dann ein Ende. Selbst die späte Reue im Gerichtssaal kam zu spät und das Absitzen einiger Monate hinter schwedischen Gardinen schien unabwendbar. Nur die nicht übersehbare Tatsache, dass sich die Verurteilte in anderen Umständen befand, bewahrte sie vor dem sofortigen Packen der nötigen Reiseutensilien. Mittlerweile war die zuständige Staatsanwaltschaft über die Gebärfreudigkeit und über die Straftaten der Kinder schier verzweifelt. Es ist ein vertrautes Bild geworden, Familienangehörige mit dem alten Korbkinderwagen, in dem ein segelohriger, strähnig-blonder Säugling ruht. Das Familiengefüge im Norderneyer Stadtbild des Clans scheint gesund und robust. Das Zusammengehörigkeitsbewusstsein geht so weit, dass ich Stein und Bein beschwören möchte, noch nie ein Mitglied dieser Familie allein angetroffen zu haben. Immer sind sie zu mehreren anzutreffen. Die Geschwisterliebe der Kinder untereinander geht so weit, dass selbst das jeweils jüngste Mitglied der Daltons im besagten Korbwagen zum Spielen mitgeschleppt wird. Selbst das Geschrei des Säuglings hat die anderen Blagen in den seltensten Fällen irritiert. Zur Not wird das Jüngste mit einem übergroßen Gummischnuller als Knebel zum Stillschweigen gezwungen. Bei den anderen Kindern war der Clan der Daltons wegen ihrer Kopfstärke gefürchtet und man schneidete sie nach Möglichkeit, wenn man sich dem Wunsch nach einem auszuleihenden Rad, Ball, Rollschuhe oder anderem Spielzeug nicht entziehen kann. Diese offensichtliche Isolierung hat die Gemeinschaft natürlich mit der Zeit noch mehr zusammengeschweißt und man kann sicher sein, sah man eine der Rotznasen in seiner Nähe, waren ein paar andere Daltons nicht fern. Die Einzelhändler und vor allem die Geschäftsführung von Selbstbedienungsläden hatten mittlerweile einen Horror vor der Bande und in ihren Albträumen sahen sie wahrscheinlich ganze Heerscharen von pferdegesichtigen, blonden Kindern ihre Regale plündern. Ihre Selbsthilfe – kleine Geschenke zur Befriedigung dieser Kinder – erwies sich auf Dauer als Bumerang. Unbewusst oder auch schon ganz bewusst machten sie sich die Furcht der Mitmenschen zum Partner ihrer Beutezüge. Hausfrauen, Auto – und Fahrradbesitzer wurden beliebte Opfer ihrer plumpen Erpressungsversuche. Welche Hausfrau wird da nicht weich, wenn ihr von so reizenden Kindern angeboten wird, die schwere Einkaufstasche nach Hause zu schleppen. Die Entlohnung sah spätestens nach dem zweiten Tragedienst stattlich aus. Wer hat auf Dauer schon die Nerven eine Abordnung spielender Daltons vor der eigenen Tür zu ertragen. Schlechte Erfahrungen haben auch die Fahrradbesitzer gemacht. Wiederum ist es eine erfreuliche Tatsache, dass der Spürsinn dieser Kinder jeden ausgebildeten Fährtenhund und selbst einem Detektiv vom Schlage eines Sherlock Holmes in den Schatten gestellt hätten. Vor diesen Naturbegabungen hätten er und Watson nur bewundernd den Hut gezogen. In unserer Inselgemeinde nun hat man sich mittlerweile ihrer Talente bedient. Sollte das geliebte Zweirad wie vom Erdboden verschwunden sein, so ist es ratsam, wenn die Kinder rein zufällig in der Nähe spielen sollten, sich ihrer Begabung zu bedienen. Die Aussicht auf einen Heiermann bewirkte meist Wunder. Was sind auch schon fünf Mark auf ein halbes Dutzend Kinder verteilt, auf die Aussicht seinen geliebten Drahtesel schon bald wieder besteigen zu können. Oft reicht den Daltons eine recht vage Beschreibung ( z.B.: Minirad mit defekter Beleuchtung ), wenn die Endabrechnung denn stimmt. Die Autofahrer profitieren bei einer entsprechend geleisteten Unterstützung auch von ihren Talenten. Zumindest wurden im größeren Umkreis ihrer Wohnung so gut wie nie Parksünder erwischt. „Freunde“ der Daltons werden bei Erscheinen des Dorfsheriffs rechtzeitig gewarnt. Leute mit ausgeprägter Beobachtungsgabe könnten allenfalls den mürrischen Blick wahrnehmen, den der Gesetzeshüter in Richtung einer ihm bekannten Fensterreihe schickte.

Die Vorgeschichte hat mich lange aufgehalten, wenn sie auch zum Verstehen der Umstände unumgänglich ist. Zu berichten ist in dieser Geschichte von ihrer letzten Untat, die wie immer ein unterschiedliches Echo hervorrief. Die Einwohnerschaft war in zwei Lager gespalten und in den Lagern gab es wie in der Politik verschiedene Flügel. Grob gesehen, gab es auf der einen Seite helle Empörung, auf der Gegenseite schmunzelnde Schadenfreude. Doch ich will nichts vorwegnehmen. Lassen wir die Daltons gedanklich noch einmal zur Tat schreiten. Auch der Wohlstand unseres Wirtschaftswunderlandes machte sich auf unserer Insel schon längere Zeit bemerkbar. Indirekt haben fast alle von der Hochkonjunktur vergangener Jahre profitiert. Bei dem einen oder anderen Inselbewohner fiel die Scheibe des Kuchens nicht in der erhofften und erwünschten Dicke aus. Äußerlich machte sich der bescheidene Aufstieg der Inselgemeinde in einer mehr oder weniger prächtigen Fassade von neuen Hotels, Pensionen, Eigentums – und Zweitwohnungen bemerkbar. Der anhaltende Zuzug von Leuten mit rheinischem Akzent wurde von den Kaufleuten mit Wohlwollen registriert. Aber nicht alle Einwohner teilten diese neue Liebe. Vormerklich die kleinen Pensionen sahen in den Zweitbesitzern eine lästige Konkurrenz, die die Grundlage ihrer Existenz bedrohte. Die Daltons schließlich gehörten wohl zu denen, die man schlicht hin als die Stiefkinder des Wohlstandes betrachten konnte. In den meisten Fällen war bei den Neubürgern kein roter Heller zu holen. Selbst in Mannschaftsstärke eines Turn – oder Gesangvereins ist dem Protestlärm – wegen keiner oder schlechten Bezahlung einer geschleppten Einkaufstasche – vor einem vielstöckigem Betonwohnsilo wenig Chance auf Erfolg beschieden. Fahrräder wurden von den Neubürgern nur zu ortsfernen Ausflügen geliehen. Ihre Autos standen entweder auf dem Festland oder auf den außerhalb des Ortes gelegenen Parkplätzen. Hinzu kam das geschäftsschädigende Fahrverbot in den Sommermonaten. Der einzig positive Umstand für die Kinder waren die im Rohbau befindlichen Eigentumswohnungen und Hotels, die im Laufe der letzten Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie waren Spielplatz und Fundgrube zugleich. Feiertage und Familienfestlichkeiten waren und sind bei dem Clan der Daltons – ich kann es mir zumindest lebhaft vorstellen – eine großartige Angelegenheit. Nur die Geschenke bereiteten, wie in vielen anderen Familien, einiges Kopfzerbrechen. Das Organisationstalent der Großfamilie schaffte in diesem Punkt wahre Wunder. Vor nicht langer Zeit, die raue Witterung des Herbstes hatte die Straßen und Strände von Kurgästen und Zweitwohnungsbesitzern freigefegt, stand nun wieder eine dieser Feierlichkeiten vor der Tür. Diesmal galt es die Mutter, die mit dem Nesthäkchen für ein paar Tage zu Verwandten auf das Festland gereist war, zu überraschen. Denkbar ist, dass der Familienrat während ihrer Abwesenheit in ihrem Reich, der Küche tagte und das Geschenkproblem von allen Seiten erörterte und betrachtete. Es wurden fantastische Vorschläge zur Diskussion gebracht. Nur leider scheiterten im Endeffekt alle Pläne an der leidigen Geldfrage. Selbst der massive Einsatz aller zu Gebote stehenden Talente hätte nicht zur Verwirklichung einer ihrer Träume gereicht – und etwas Anständiges sollte es ja schließlich sein. Zu guter Letzt senkte sich, kann ich mir vorstellen, leichte Ratlosigkeit über die Versammlung. Wahrscheinlich wurde in diesem Moment der nahen Verzweiflung die Idee geboren.

Einem der Daltons fiel es wie Schuppen von den Augen. Er wurde sich plötzlich der Schäbigkeit und der Trostlosigkeit ihres Beratungszimmers bewusst. Eine neue Kücheneinrichtung wäre eigentlich das Gegebene. Das Stichwort löste einen wahren Begeisterungstaumel aus. Das Problem der Bezahlung war plötzlich sekundär und wurde vom Tisch gefegt. Die Uneinsichtigkeit der Möbelgeschäfte, sich auf einen Ratenkauf der Daltons einzulassen, wurde elegant umgangen. Im Schutze der einbrechenden Dunkelheit eines lauen Herbstabends zog ein Trupp der Großfamilie mit Bollerwagen, den ein Nachbar ihnen nur widerstrebend geliehen hatte, und Handwerkszeug zwei oder drei Straßenzüge weiter, zu einem Neubau mit Zweitwohnungen. Man durchstöberte die kurz vor ihrer Fertigstellung stehenden Etagen und Eigentumswohnungen und entschied sich für eine altrosafarbene Einbauküche. Ohne viel Getöse ging man an die Arbeit. Die Hängeschränke ergaben eine erste Wagenladung, die im Schein der Straßenlaternen von einer Abordnung nach Hause gekarrt wurde. Hier waren die Zurückgebliebenen in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Mutters geerbte oder auch vom Sperrmüll stammende Einrichtung war von den Wänden gerückt und zum Teil fachgerecht zerlegt worden. Der Lärm in der Wohnung der Daltons war nicht ungewöhnlich und so beschränkte sich der Protest der Nachbarn wohl auf nicht ganz ernst gemeinte Drohungen, mittels unter die Decke gestoßener Besenstiele. Einige Fuhren waren nötig, um die gesamte Einrichtung an ihren neuen Bestimmungsort zu bringen. Große Schwierigkeiten bereiteten eigentlich nur der Ab – und Aufbau der Geschirrspülmaschine mit ihrem Wasseranschluss und die unhandliche Größe des Eisschrankes mit aufgesetztem Gefrierfach. Doch schließlich gelang auch dieses. Da nach getaner Arbeit die Küche mit zwei Einrichtungen entschieden zu voll war, entschloss man sich zu einer letzten nächtlichen Fahrt. Die ausgedienten Möbel gingen handlich zerlegt den Weg, den man ihnen schon lange zugedacht hatte. Der Weg zur Müllkippe war weit und führte quer durch den schlafenden Ort. Doch auch hier bewährte sich beispielhaft Teamwork der Daltons. Es blieb sogar noch bis zum Tagesanbruch Zeit für eine Mütze voll Schlaf und der Überreichung des Geburtstagsgeschenkes an die heimkehrende Mutter.
Die örtliche Polizei tappte volle zwei Tage völlig in der Dunkelheit dieses Falles. Man stand vor einem schier unlösbaren Rätsel. Selbst die informierten Beamten der Kriminalpolizei waren ratlos und reisten unverrichteter Dinge wieder ab. An dem Ratespiel beteiligte sich trotz größter Geheimhaltung schon bald der ganze Ort. Die Daltons wurden schließlich auf Grund dieser Flüsterei entlarvt. Es muss wohl einer an Schlaflosigkeit leidender Mitbürger gewesen sein, der anonym der Polizei von einer seltsamen nächtlichen Bollerwagenfahrt berichtete.
Insgeheim hat der eine oder andere Einwohner die Geschichte mit den Räubereien Robin Hoods verklärt. Hoffen wir, dass die Daltons einen milden, verständnisvollen und mit Humor gesegneten Richter fanden.

PS.: Die Daltons haben vor Jahren die Insel mit unbekanntem Ziel verlassen. Ihr jahrelanger Wohnsitz wurde aufwendig saniert und ist ein Schmuckstück im Ortsbild unserer Insel.