Erfahrung
Die Erinnerungen an Stürme und Orkane, die über Norderney hinweg fegten und ihre Spuren hinterließen, werden unter uns Insulanern gerne durch Anekdoten und Geschichten wachgehalten, die sich fast ausschließlich mit den gut sichtbaren Schäden an Stränden, Deichen und den eigenen vier Wänden befassen. Meiner Familie und mir geht es da auch nicht anders. So werden sich die beiden Orkane „Christian“ und „Xaver“ durch abgedeckte Dächer auf der Insel und durch die Schäden am eigenen Haus und Grundstück im Gedächtnis verankern. Unseren Altvorderen ging es da auch nicht anders. Mein Vater erzählte gerne von der Hollandsturmflut (1953) und seinen verheerenden Folgen für die Niederlande und Flandern. In unserem Nachbarland ertranken damals fast 2000 Menschen.
Als Dienststellenleiter der Norderneyer Wetterwarte (1947 – 1975) war er unmittelbar an der Berichterstattung über die als „Hamburger Flutkatastrophe“ (16. und 17. Februar 1962) in die Geschichte eingegangene Sturmnacht beteiligt. Über den Fernschreiber seiner Dienststelle konnte er trotz widriger Umstände wichtige Daten und Fakten über die Weiterentwicklung des Wettergeschehens an das Seewetteramt in Hamburg weitergeben. Wobei seine Erzählung im Kreise der Familie mit der Gischt, welche seeseitig gegen die Fenster seiner Dienststelle, die rund 100 Meter vom Flutsaum entfernt lag, klatschte, eröffnet wurde. Eingeflochten in seine Erinnerungen wurde dabei auch immer seine Wasserprobe vor dem damaligen Hotel Pique am Kurplatz, das heutige Haus der Insel. Die stetig aus einem der Gullis quellenden Wassermassen entpuppten sich nach seinem Geschmackstest als Seewasser, welches offensichtlich in die städtische Kanalisation eingedrungen war.
Mir selber sind aus beruflichen Gründen einige der heftigsten Stürme in Erinnerung geblieben. Gleichzeitig eindrucksvoll und beängstigend war der Sturm „Vivian“ im Februar 1990, Böen in Orkanstärke drückten bei zwei oder drei über die Ladebrücke an Bord der Fähre fahrenden Autos die Heckscheiben ein und hüllten Schiff und Abfertigungshalle in Gischtwolken. Verbunden mit diesen Urgewalten sind Namen, die das Institut für Meteorologie der FU Berlin seit 1954 diesen Tiefdruckgebieten verpasst. Wobei peinlichst darauf geachtet wird, dass die Namensgebung gleichermaßen weiblicher und männlicher Natur ist und hilfreich bei der Aufarbeitung der eigenen Erinnerung an stürmische Ereignisse sind. So ist mir der Name des Sturmtiefs „Andrea“ sehr vertraut. An diesem 5. Januar 2012 hatte ich einen Termin bei meinem HNO-Arzt in Norden. In so einem Fall erweist sich der Wohnort Norderney leider mehr als hinderlich. Besuche bei einem Facharzt sind immer mit einer Reise auf das Festland verbunden. Dank der überfüllten Wartezimmer wächst sich so eine Reise auch schon mal zu einem Tagesausflug aus. Auch an diesem besagten Tag war mein überpünktliches Erscheinen nicht von Erfolg gekrönt. Die nette Dame am Empfang legte mir zur Überbrückung der Wartezeit nahe, einen Spaziergang durch die Stadt Norden zu machen. Großartige Einkaufsaufträge seitens meiner Frau konnte ich weder telefonisch einholen noch ausführen, weil ich das Handy zu Hause gelassen hatte und in meinem Portemonnaie ziemlich Ebbe herrschte. Trotz alledem habe ich auf dem Norder Postamt noch einen Bogen Sondermarken erstanden, für die immer Bares vorhanden war. Nicht zu vergessen den wöchentlichen „Stern“ vom Zeitungskiosk am Markt. Meine wiederum überpünktliche Rückkehr in die Praxisräume wurde leider nicht honoriert. In dem immer noch gut gefüllten Wartezimmer saßen zudem noch ein paar ungeduldige Insulaner, die ebenfalls den engen Winterfahrplan im Hinterkopf hatten. Die eigentliche Behandlung, Beratung und nächste Terminabsprache nahm keine zehn Minuten in Anspruch. Dank einer sehr rasanten Fahrt mit einem Taxi war ich eine Minute vor Abfahrt des 11.15 Uhr Schiffes an Bord, jedoch dann tat sich daraufhin erst einmal gar nichts. Nach und nach trudelten die anderen HNO-Patienten ein. Das Eintreffen des verspäteten Schulbusses löste leider nicht den ersehnten Abfahrtsgong aus. Mittlerweile hatte sich mein alter Freund Werner Weber zu mir gesellt. Eine Durchsage der Schiffsleitung bewahrheitete die insgeheim befürchtete Misere. Die Abfahrt wurde wegen des Sturmtiefs „Andrea“ auf den frühen Nachmittag verschoben. Werner lud mich zu Kartoffelsalat und Würstchen ein. Bei so manchem Klönschnack wurde uns die Zeit an Bord nicht lang. Mit sicher viel äußerlich zur Schau gestelltem Gleichmut, ertrugen die zahlreich wartenden anderen Fahrgäste die Fahrplanänderung. Die am frühen Nachmittag spürbar aufkommende Unruhe im Fahrgastsalon wurde durch die sonore Stimme des Kapitäns ein Ende gesetzt: „Wegen des weiter zunehmenden Sturmes wird die Abfahrt des Schiffes auf den morgigen Tag verlegt. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Mein Freund Werner erfasste als einer der Ersten die Situation und mahnte eine Übernachtungsmöglichkeit im Norddeicher Fährhaus an. Beim Hinausstürmen hörte ich noch die Worte: „Nimm ein Zimmer zur Hofseite!“.
Die Dame im Empfang schien mir weder überrascht noch schockiert, dass ein Neuankömmling ohne Gepäck – abgesehen von der zusammengerollten Zeitschrift – ein Zimmer verlangte. Selbst meine Mittellosigkeit brachte sie nicht aus der Fassung, als ich glaubhaft versichern konnte, dass ich mit ihrem Chef seit Kindertagen freundschaftlich verbunden wäre. Nach einer flüchtigen Inspektion des Zimmers machte ich mich auf den Weg, um zumindest die nötigsten Mittel zur Pflege eines normalen Mitteleuropäers zu erstehen. Neben der dürftigen Barschaft erwies sich der Winterschlaf der Norddeicher Geschäftswelt als großes Hindernis. Ich irrte durch öde und menschenleere Straßen und wurde das eine oder andere Mal auf Ostern 2012 vertröstet. Auf der Norddeicher Straße in Richtung Norden wurde ich auf die Leuchtreklame eines Supermarktes aufmerksam. „Netto“ hatte tatsächlich geöffnet. Meine Frage nach Zahnbürste und Rasierzeug wurde zu meiner Überraschung bejaht. Einen kleinen Haken oder Pferdefuß hatte die Geschichte dann aber doch, Zahnbürsten gab es nur im Dreierpack, dazu Einwegrasierer gleich im Zehnerpack. Rasiercreme war anscheinend erst für die Frühjahrskollektion vorgesehen. Das überaus freundliche Personal gab mir dann noch den entscheidenden Tipp bei meiner Suche nach einem Bleistift und Radiergummi. Schließlich wollte ich nicht den ganzen Abend stumpf vor dem TV-Gerät in einem Hotelzimmer sitzen und das Sudoku in der Beilage der Zeitschrift war noch nicht gelöst. Der Kauf von zehn abgepackten Bleistiften scheiterte an meinem klammen Geldbeutel. Hinzu kam, dass den jungfräulichen vakuumverpackten Bleistiften weder Anspitzer noch Radiergummi beigelegt waren. Eine rettende Idee stimmte mich versöhnlich. Auf meinem Weg zum Büro meines langjährigen Arbeitgebers kaufte ich von meinem letzten Geld zwei Stück Kuchen, um sie als Abendbrot bzw. Frühstück zu verzehren. Einige der gestrandeten Gäste und Insulaner hielten sich immer noch in der Schalterhalle auf. Wohl in der Hoffnung, dass eventuell mit dem Abflauen des Sturmes noch eine Sonderfähre fahren würde. Meine gewünschten Schreibutensilien bekam ich geschenkt und den gut gemeinten Wunsch für eine ruhige Nacht im Seebad Norddeich. Der Weg zum Fähranleger und Bahnsteig war durch Teams von Radio und Fernsehen blockiert. Den Triumpf einen gestrandeten Kapitän der Reederei mit jahrzehnterlanger Erfahrung zu interviewen habe ich den Reportern dann doch nicht gegönnt und so habe ich mich klammheimlich durch einen Seiteneingang davongemacht.
Die Nacht im Hotel war doch sehr unruhig. Erst jetzt begriff ich den guten Rat von meinem Freund Werner, den ich bei der Zimmerwahl vernachlässigte. Neben den Sturmgeräuschen hielt mich der Lärm von unzähligen Autos der Orkantouristen wach. Ziemlich zerknittert kam ich am nächsten Tag mit der ersten Fähre auf der Insel an. Im Nachhinein muss ich eingestehen, dass es ein reichlich teurer Arztbesuch war. Zumal meine Frau am besagten Abend zu allem Überfluss ihr Handy in der örtlichen Kanalisation versenkt hatte, doch das ist eine andere Geschichte.
Postskriptum: Übrigens hatte ich Anfang Dezember, „Xaver“ war gerade im Anmarsch, wieder einen Arzttermin in Norden. Ich habe darauf verzichtet. Erfahrung und Schaden sind enge Verwandte.