Ungeliebte Mitreisende

Vor dem Abenteuer „Seefahrt“ stand eine dreimonatige Kasernierung in einer Schiffsjungenschule in Elsfleth. In der Bevölkerung dieses Städtchens an der Weser auch „Mosesfabrik“ genannt. 86 zukünftigen Seeleuten wurden in dieser Zeit von alten Fahrensleuten die Grundbegriffe des Handwerks eingetrichtert.
Nach der erfolgreichen Bewerbung beim Norddeutschen Lloyd in Bremen musterte ich als Schiffs- bzw. Decksjunge auf meinem ersten Schiff an. Auf der „Breitenstein“, einem konventionellen Frachter, zog ich mit drei weiteren, in der Ausbildung stehenden Junggraden, in eine winzige Kammer ein. Schon erstaunlich was man auf sechs oder sieben Quadratmetern alles unterbringen kann. Neben zwei Hochbetten gab es noch einen Tisch, einen Stuhl und eine unbequeme Bank. Als Viermannspuff wurde diese Behausung von der restlichen Besatzung liebevoll betitelt. Wenn ich mich recht erinnere, wurden die Arbeitsklamotten aus Platznot in Spinden auf dem Betriebsgang aufbewahrt. Die paar privaten Utensilien stopfte man in die Kojenschubladen oder unter das sogenannte Sofa.
Der Beginn des Arbeitstages war entsprechend  schwierig. Die zwei gemeinsamen Duschen für die Besatzung waren in den frühen Morgenstunden entweder durch die Unteroffiziere (Boots- und Zimmermann) oder die Matrosen besetzt. Die Decksjungen standen ohnehin auf  der untersten Stufe in der Bordhierarchie. Wir hatten eben zu warten bis der Waschraum endlich frei geworden war.
Das Aufstehen selber gestaltete sich bei der Enge ebenfalls schwierig. Besonders bei Seegang war es schier unmöglich gleichzeitig in die Arbeitskleidung zu schlüpfen. Doch nach den ersten Stürzen und blauen Flecken hatten wir den Bogen raus. Wir einigten uns darauf, dass die mit dem Messedienst beauftragten  Decksjungen zuerst aus den Federn mussten.
Ärgerlich in dieser räumlichen Enge war zudem, dass bei dem konstant schlechten Wetter auf dem Nordatlantik das Bulleye geschlossen sein sollte. Ansonsten war unweigerlich mit dem Besuch vom Blanken Hans zu rechnen, d.h. eine der überkommenden See setzt die Kammer unter Wasser. Zu allem Überfluss waren meine drei Mitbewohner auch noch starke Raucher. Eigentlich kein Wunder, dass mich die Seekrankheit in diesen ersten Monaten meiner Ausbildung immer wieder heimsuchte. Aus lauter Frust  wegen der ewig schlechten Luft waren wir am Ende der ersten Reise dann ein qualmendes Quartett.
An einen Umstand konnte ich mich allerdings weder in der Ausbildungszeit noch in späteren Jahren gewöhnen. Trotz aller Sauberkeit und ständiger Bekämpfung reiste auf den Stückgutschiffen eine Unzahl von blinden Passagieren mit. Die Kakerlaken waren allgegenwärtig. Selbst in den Kühlschränken wurden ab und an winterharte Exemplare gesichtet. Das Kombüsenpersonal rückte den Viechern nach der letzten Essensausgabe mit kochendem Wasser zu Leibe. Das Ausgasen unserer Kammer hatte neben einigen Opfern nur zur Folge, dass unsere direkten Kammernachbarn lauthals protestierten. Die vor der Gasattacke überschaubare Population in ihren Kammern wurde durch Flüchtlinge unerträglich vermehrt. Friede kehrte erst mit dem Aufstellen von speziellen Fallen ein. Ihre Vorliebe für Kaffeepulver wurde ihnen dabei zum Verhängnis. Der verführerische Köder befand sich in einem Glas oder Becher, dessen Randinnenseite mit Fett eingeschmiert war. So manches randvolle Glas haben wir so in den Morgenstunden der See übergeben.
Insektenfresser unter den Zugvögeln waren an der europäischen Küste und auf dem Weg zum Roten Meer gern gesehene Gäste unseres chinesischen Wäschers, beim Norddeutschen Lloyd mit „Fritz“ betitelt, bei der Hapag mit „Max“. In der immer gut temperierten Wäscherei waren die Krabbeltiere besonders zahlreich vertreten. So hatte es sich Fritz bzw. Max zur Gewohnheit gemacht, bei Arbeitsbeginn seine Wäschekörbe auf dem Deck auszuschlagen. Bachstelzen und andere Pieper vernichteten in kürzester Zeit diese unverhoffte Mahlzeit auf ihren Weg in die afrikanischen Winterquartiere.
Kakerlakenrennen waren mit gewagten Einsätzen ein nicht alltäglicher Sport. Man versuchte ein vermeidlich flinkes Exemplar einzufangen und in eine auch als Rennbox bezeichnete Streichholzschachtel zu sperren. Auf einer langen Back, einem Tisch, wurden dann mittels eines nassen Fingers mehrere gerade Linien gezogen. Geldwetten waren bei diesem seltsamen Rennen verpönt. Es ging fast ausschließlich um die eine oder andere Kiste Becks Bier. Bei den damaligen Heuern ein nicht unerheblicher Kostenfaktor. Mit Rennbeginn wurden die stehenden Streichholzschachteln aufgezogen. Jegliche Einflussnahme auf die „Pferde“  war strengstens untersagt. Wie im alten Rom kam dann auch nur der Gewinner mit dem Leben davon.

 Ganz besonders gern hielten sich die ungeliebten Mitreisenden in der Kombüse und den Provianträumen auf. Ihre Vorliebe für Kaffee und Mehl sorgte allzu häufig in den gereichten Speisen und Getränken für unerwünschte Zutaten. Schon aus diesem Grund war der Bäcker gehalten, seine Mehlvorräte vor Gebrauch gründlich zu sieben. Über meinen Freund Schorsch ist mir der Disput zwischen einem Kapitän und einem Bäckerkochsmaaten zu Ohren gekommen, nachdem der Alte beim Frühstück in seinem aufgeschnittenen Brötchen eine gebackene Küchenschabe entdeckt hatte, wollte er allen Anschein nach vor den Fahrgästen an seinem Tisch ein Exempel statuieren. Der Bäcker wurde in den Salon zitiert und der Kapitän zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Corpus Delicti und fragte in barschen Ton: “ Was ist das?“Der Angesprochene steckte das gebackene Insekt ungerührt in den Mund und kauend erwiderte er: „Eine Rosine“. 

In tropischen Gefilden verirrten sich ab und an auch die großen Verwandten unserer ungeliebten Haustiere an Bord. Diese Monsterausführung wurde bei den Seeleuten seltsamerweise „Volkswagen“ betitelt. Essbar sind die Dinger anscheinend auch. Zumindest erinnere ich mich an eine abnorme Wette, die später einmal erzählt wird.

Vor Abmusterung und Antritt des Heimaturlaubs wurden Klamotten, Koffer, Taschen und Seesack sorgsam nach reisewilligen Krabblern durchforstet. Trotz aller Sorgfalt habe ich zum Entsetzen meiner Mutter einmal zwei oder drei Exemplare in unser Haus auf Norderney eingeschleppt. Vermutlich hatten sie sich quasi als Maschinisten in meinem Tonbandgerät einquartiert. Entweder wurden sie Opfer unseres rauen Inselklimas oder der Sauberkeit unserer vier Wände. Möglich auch, dass es nur männliche oder nur weibliche Exemplare gewesen sind. Zumindest haben die gesichteten zwei oder drei Kakerlaken die chemische Keule aus Mutterns Giftschrank nicht überlebt.
Mit dem Siegeszug der Klimaanlagen an Bord wurde dieser Plage ein Ende gesetzt. Dennoch wurden Schädlinge mit der Ladung immer wieder eingeschleppt. So konnte ich bei
Anmusterung auf der „Burgenstein“ mein neues Zuhause erst einmal nicht beziehen. Ein Kammerjäger zog durch den gesamten Wohnbereich und legte hinter den Wandverschalungen Kontaktgift aus. Trotz dieses enormen Aufwandes wurde die Sippe von Speedy Gonzales im Laufe der Reise immer zahlreicher. Die mitfahrende Frau unseres österreichischen Kapitäns stand häufig kreischend auf dem Sofa oder Tisch ihres komfortablen Salons. Zumindest waren ihre Hilferufe noch ein Deck tiefer in der Messe zu hören. Die Brückenmaus haben wir trotz delikater Leckerbissen nie mit den aufgestellten Schlagfallen erlegen können. Einer meiner türkischen Matrosen hat sie einmal bis unter das Sofa des Kartenraums verfolgt. Bei diesem Akt kitzelten ihn dann die Fransen einer herabhängenden Wolldecke. Diese zarte Berührung muss er wohl mit der flüchtenden Maus in Verbindung gebracht haben. Zumindest stand er  Sekundenbruchteile nach seinem Aufschrei wieder auf seinen Beinen.
Mit einem eigenartig anmutenden Humor versuchte unser Offiziersanwärter der Plage beizukommen. In Höhe der Türschwelle hatte er neben einem aufgemalten Schlupfloch ein Namensschild montiert, auf dem jeder Besucher aufgefordert wurde bei Speedy Gonzales dreimal zu klopfen.
Unsere Ingenieure hatten in einer Lebendfalle einige Exemplare der Nager gefangen und versuchten in einem Terrarium eine Kreuzung mit weißen Mäusen, die sie bei einem Landgang in Rotterdam erstanden hatten.
Es gestaltete sich äußerst schwierig diese Mäuseplage vor den amerikanischen Behörden zu verheimlichen. Zumal die Nager auf ihrer Suche nach Futter immer dreister wurden. Der bunte Weihnachtsteller fiel ihnen natürlich auch zum Opfer. Ihre endgültige Vernichtung wurde beschlossen, als die Topfpflanzen in der Kabine des Kapitäns mehrmals ausgebuddelt wurden und der 1. Offizier mehrere seiner Unterhosen unter der Kojenschublade in der Kinderstube einer Maus entdeckte.
Die anrückenden Hamburger Kammerjäger konnten das Rätsel ihrer  Resistenz gegen das Kontaktgift mit Hilfe von Futterresten und den Aussagen des Ladungsoffiziers lösen. Zusammen mit einer größeren Partie Mandeln waren die Plagegeister in einer der Laderäume verstaut worden. Das so sorgsam vor der Reise ausgestreute Pulver und die leckeren Nüsse enthalten beide reichlich Blausäure, was deshalb zur Immunität der zahlreichen Sippe um Speedy Gonzales führte.
Die Mäuse bescherten der gesamten Besatzung noch ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk. Mit Sack und Pack zogen wir für eine Nacht in ein Hamburger Hotel um. Derweil die Kammerjäger das Schiff ausgasten und dem gesamten Bestand den Garaus machten.
Nur die misslungenen Kreuzungsversuche überlebten. Heimlich hatten wir sie vor dieser Aktion von Bord geschmuggelt und im Hafengebiet ausgewildert.