Zwischenmenschliches und eine Extraration

Auch die nun folgende Story führt zurück auf die viel gefluchten und doch so heiß geliebten kombinierten Fracht – und Passagierschiffe im Ostasiendienst, wenn sie diesmal auch nur Kulisse sein sollen für das Auftreten eines Mannes, der in den Erinnerungen und Erzählungen vieler Hapag – Lloyd – Fahrer eine Schlüsselrolle spielt. Vor einiger Zeit bin ich, sein ehemaliger auszubildender Junggrad, ihm wieder begegnet. Auch die Würde eines Kapitäns im Ruhestand hat ihm nichts von seiner warmen Menschlichkeit genommen. In seinem mittlerweile faltig gewordenen Pferdegesicht spiegeln sich noch immer die Ironie und der mutwillige Spott mit dem er seine Umwelt nach wie vor bedenkt. Trotz seiner angenommenen und ausgeprägten Schrullen kann ich nach wie vor nachvollziehen, dass wir, die wir damals an der Löwenback ( Löwenback = Tisch in der Mannschaftsmesse, der den Junggraden vorbehalten war ) der „Hessenstein“ saßen und ihm in erster Linie unterstellt und somit ausgeliefert waren, ihn verehrten und ihm den Kranz eines Idols und Vorbilds verliehen. Als Halbwüchsiger neigt man ja dazu, selbst Trinkfreudigkeit und Trinkfestigkeit zu idealisieren und zur Tugend zu machen. Doch wer hat keine Schwächen? Es passte auch zu der farbigen Erscheinung dieses Mannes. Seine Beliebtheit führte dazu, dass man ihm selbst Streiche gröbsten Kalibers nachsah. Wiederum was sollte man auch schon unternehmen, wenn man als Decksjunge , Jungmann oder Leichtmatrose in die Schusslinie seiner oft eigenartigen Späße kam. Jede Beschwerde wäre im Glanz seiner drei Ärmelstreifen ( 1.Offizier ) zur Nichtigkeit geschrumpft und wirkungslos verpufft. Bei wem hätten wir uns schließlich und endlich auch beklagen können? Der Alte ( Kapitän ) hatte mit seinen 86 Fahrgästen wahrhaftig andere Sorgen. Ich muss gestehen, dass uns der Gedanke einer Beschwerde auch fern lag. Zumal sein Spott und die damit verbundenen „Untaten“ gleichmäßig verteilt waren. Bei der vielköpfigen Besatzung konnte man rein rechnerisch nur selten Ziel seiner groben Späße werden. Stewards oder Herren aus dem Dunstkreis des Fahrgastsalons ( Zahlmeister, Arzt, Obersteward ) waren ohnehin seine bevorzugten Opfer. Und so ertrug man wie ein Mann von Welt den zufälligen Treffer und das schadenfrohe Gelächter der Nichtbetroffenen.

Bevor ich nun eine der mir widerfahrenen Peinlichkeit zu Papier bringe, möchte ich mich noch einmal an dem Missgeschick unseres Schiffsarztes gütlich tun. Sozusagen um die Lacher etwas von meiner Person und meinem eigenen Unbill abzulenken.

Dr. David stammte aus Österreich und war ohne Frage ein beneidenswerter Sunnyboy. Seine stattliche Erscheinung und seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit machten ihn zum Liebling der Fahrgäste. Bei Damen und Herren gleichermaßen beliebt, entwickelte er sich im Laufe der Reise zum Snob, Bartiger und Tröster später Mädchen. Bei den Herren war es die Trinkfreudigkeit, bei den Damen das gute Aussehen und der österreichische Charme, die zu seiner Beliebtheit beitrugen. Wohlwollend verziehen, selbst die distanzierten Engländer unter den Fahrgästen, die gelegentlichen Ausrutscher unseres Doktors. Selbst die üble Angewohnheit nach reichlichem Alkoholgenuss zu fortgeschrittener Stunde braune Gesänge oder auch die erste Strophe des Deutschlandliedes anzustimmen, wurde ihm nachsichtig verziehen. Die wenigsten Passagiere und Mittrinker verstanden ohnehin das österreichisch und alkoholisch eingefärbte Deutsch. So konnten dann auch selbst Wirtinnenverse oder obszöne Texte die Trink – und Saufkumpanen nicht schrecken. Ganz im Gegenteil, seine Gesänge trugen zur allgemeinen Verbrüderung und Völkerverständigung im Barbereich bei. Nicht nur seine Sangesfreudigkeit, sondern auch sein nicht zu übersehender Erfolg bei den Damen, war in zunehmendem Maße unserm 1. Offizier ein Dorn im Auge. Wilhelm H. war nun selbst in seiner besten Dinneruniform ( „Affenjäckchen“ ) nicht gerade ein Adonis und Frauenschwarm. Besonders ärgerlich war für ihn, dass er – wir anderen drei Wachgänger der 8 – 12 Wache zählten da nicht – in der Zeit der lautesten Gesänge und der heißesten Flirts auf der Brücke Dienst schieben musste und den südlichen Sternenhimmel lediglich für nüchterne astronomische Berechnungen nutzen konnte. Der Ärger erreichte seinen absoluten Höhepunkt, als eine liebeshungrige Engländerin eines Nachts leicht geschürzt unterhalb der Brückennock auf dem Palaverdeck in das offen stehende Fenster der Arztkabine in balzenden Tönen den Namen des guten Doktors flötete. In der schützenden Dunkelheit der Nock ( Nock = offene Verlängerung der Kommandobrücke zur Bb. –u. Steuerbordseite des Schiffes ) konnten wir vier ungeladenen Zaungäste auch noch beobachten, dass der Sirenengesang auch noch von Erfolg gekrönt war. Wenige Sekunden nach ihrem Abgang sahen wir einen ebenfalls leicht geschürzten Doktor, in dem, den Fahrgästen vorbehaltenen Kabinentrakt verschwinden. Das nächtliche Schauspiel wiederholte sich noch ein paar Mal in unregelmäßigen Abständen vor stummer Kulisse bis unser 1. Offizier die Initiative ergriff und mich zum Werkzeug seiner von Eifersucht motivierten Rache machte.

Kurz nach Wachantritt bekam ich meine dienstlichen Instruktionen, denen ich nicht zu widersprechen wagte. Bei einsetzender Dunkelheit schlich ich unter den Augen der jetzt dreiköpfigen Kulisse die Treppe zum Palaverdeck herunter. Geriet ihnen, um die Ecke biegend, für einen Moment aus den Augen – und wurde wenig später wieder gesichtet, als ich mich mit sicher grotesk wirkenden, katzenhaften Schritten dem offenen Kabinenfenster der ärztlichen Unterkunft näherte. Verharrte kurz im toten Winkel des Bulleyes, um dann ein englisch eingefärbtes „Doktor Daviiid“ zu flöten. Machte auf dem Absatz, jede Vorsicht außer Acht lassend , kehrt und kam gerade noch rechtzeitig bei der schweigenden Kulisse an, um wenig später in das dröhnend , schadenfreudige Gelächter einfallen zu können.

Von Stund an war selbst bei tropischen Außentemperaturen in den Nachtstunden das Fenster zur Kammer des Doktors verschlossen – und auf den Schiffen gab es zur damaligen Zeit selbst im Bereich des Offiziersdecks nur eine unzulänglich funktionierende Klimaanlage.

Die Beispiele der oft gehässigen und manchmal auch an die Grenzen des guten Geschmacks gehenden Einfälle dieses Mannes ließen sich beliebig fortsetzen. Eine weitere kleine Episode aus der Zeit der Kombischiffe soll die Erinnerung an Wilhelm H. zu einem vorläufigen Ende bringen. Zu berichten ist von der seltsam anmutenden 4 – 8 Wache, die einer seiner launenhaften Ideen entsprungen war. Noch heute bin ich dankbar, dass seinen grillenhaften Einfällen zumeist nur ein kurzes Leben beschieden war. Der zu schildernde Brückendienst wurde dann auch „nur“ für die Reise durch den Indischen Ozean eingeführt bzw. durchgehalten.

Durchaus seefahrtsüblich verlief das Wecken der abzulösenden Hundswache ( Wachdienst von 00 bis 04 Uhr ). Man trollte sich aus der Koje und nach einer Katzenwäsche und dem damals schon grässlich schmeckenden Kaffee in der Mannschaftsmesse erfolgte die Ablösung der Kollegen auf der Brücke. Zwischen vier und acht Uhr hatte nun Wilhelm mit seinen drei Wachgängern das Kommando über das Wohl des Schiffes. Neben unserm 1. Offizier gab es da noch einen frischgebackenen 4. Offizier, der die theoretischen Kenntnisse der Seefahrtschule in die Praxis umsetzen sollte. Das Duo wurde durch einen Matrosen ( Uwe ) und mich komplettiert. Eine richtige Aufgabe fiel uns während des Seetörns eigentlich nicht zu. Die niedrigen Arbeitslöhne der 60-ziger Jahre waren wohl auch Grund für diese völlige Überbesetzung der Brücke. Bei einsetzender Morgendämmerung wurde dann die Zeit mit Reinigungs – und Putzarbeiten vertrödelt. Ganze Generationen von Seeleuten haben so jeden Tag die Messinggegenstände auf der Brücke auf Hochglanz gebracht und auf diese Weise so manche nautische Antiquität für die Nachwelt erhalten. Die Seeluft hat uns diese Aufgabe zur nicht wegzudenkenden Sisyphusarbeit gemacht. Neben diesen Beschäftigungen gab es während eines Seetörns nur noch das ermüdende Steuern des Schiffes, wenn die Automatik abgeschaltet oder ausgefallen war. Doch gewöhnlich war während einer längeren Seereise der „eiserne Steuermann“ , also die Automatik , eingeschaltet. So entfielen dann auch mehr oder weniger elegante Kurven eines übermüdeten oder unkonzentrierten Matrosen oder Junggrades. Nicht zu vergessen ist die ermüdende Ausguckerei in der Brücke oder in einer der Nocken. Man stand sich die Beine in den Bauch und starrte und starrte angestrengt in das dunkle Nichts. Gab es tatsächlich einmal ein anderes Schiff zu melden, so konnte man fast sicher sein, dass der Wachoffizier es längst ausgemacht hatte und über so viel Blindheit nur den Kopf schütteln konnte. Das Radargerät lief übrigens nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Kapitäns. So oder in ähnlicher Form verlief der damalige Wachdienst während eines längeren Seetörns.

Der Wachdienst, den wir während dieser Reise nun Dank unseres 1. Offiziers versahen, hat wenig Ähnlichkeit mit dem Althergebrachten. Gleich nach der Wachübergabe durch unsere Vorgänger erfolgte durch ihn eine peinlich zu befolgende Einteilung für die erste Stunde auf der Brücke. Der Matrose bekam als Standplatz das Radargerät und ich die Steuersäule des Kompasses zugewiesen. Er selber machte es sich auf dem hochbeinigen Kapitänssessel mit den Beinen in der Ablage der Brückenfenster bequem. Ich bekam als Auflage noch das Kissen zugeworfen, weil er gern hart sitzen wollte. Unsere Aufgabe war einfach und wir befolgten sie buchstabengetreu. Für die erste Stunde hatten wir nichts zu tun. Absolut nichts – außer, dass wir beim seligen Schlummern (in stehender Position war es ohnehin nur ein Dösen), nicht aus dem Gleichgewicht geraten durften. Später habe ich als Offizier Wachgänger erlebt, die diese Technik zur Vollkommenheit entwickelt hatten. Sie verfielen stehend in absoluten Tiefschlaf. Mein alter Freund und jahrelanger Mitstreiter Peter Saß und ich haben bei Wachübergabe einmal einen freistehenden und schlafenden Matrosen in rund zehn Längen und ein Meter breite Papierbahnen eingewickelt. Aufgewacht ist er dadurch trotzdem nicht. Doch ich schweife ab.

Während dieser ersten total stillen Stunde hatte der 4. Offizier das Heft in der Hand. Er war Ausguck und Navigator in einer Person. Er hatte seiner Tätigkeit mit größtmöglicher Behutsamkeit nachzugehen. Kein Laut durfte die da auf dem Radar, der Steuersäule und dem Kapitänsstuhl ruhenden Figuren für die nächsten sechzig Minuten stören. Mit dem mir überlassenen Kissen und einiger Übung entwickelte ich mit der Zeit eine Technik, auch im Stehen zu dösen und zu entspannen. Nach der mehr oder weniger erzwungenen Ruhepause setzte Wilhelm den zweiten Teil der morgendlichen Wache in Szene. Ich ging zum beliebten Putzjob über und der Matrose wurde in die Bäckerei geschickt, um das erste Frühstück zu besorgen. Ein morgendlicher Imbiss wie ich ihm seit dieser Reise nie wieder begegnet bin. Neben den backfrischen und dampfenden Brötchen umfasste es außerdem eine große weiße Porzellanschale gefüllt mit Sauerkraut , welches gleichmäßig – nach seinem verschobenen Augenmaß gleichmäßig – auf die beiden Brötchenhälften verteilt wurden. Die kleinere untere Hälfte Brötchen wurde mit entsprechend weniger Kraut belegt. Grausam an diesem ersten Imbiss auf nüchternen Magen war, dass ich – aus welchen Gründen auch immer – die größere Hälfte mit der größeren Portion Sauerkraut vorgesetzt bekam. Mag sein, dass er anfänglich Erbarmen mit meinem ewig knurrenden Magen hatte. Auch ihm war es natürlich nicht entgangen, dass die Qualität der Bordverpflegung katastrophal war. So half er eben auf seine Art bei der Proviantaufbesserung. So ließ er u. a. jeden Tag zur Abendbrotzeit sein Salonessen im Kartenzimmer durch einen der dienstbaren Geister servieren. Kaum war der Weißbefrackte entschwunden, wurden entweder der Matrose oder ich an den gedeckten Tisch geordert. Doch zurück zu dem ausgefallenen frühen Imbiss. Durch meinen offensichtlichen Widerwillen bekam dann wohl seine seltsame Art von Humor die Oberhand – und ich war in diesem Fall das Opfer. Mit der Zeit kostete es mich einige Überwindung jeden Morgen die zugewiesene Portion vor seinen Augen zu essen bzw. runter zu würgen. Doch letztlich war es eine wahre Delikatesse gegen den später folgenden zweiten Teil des Frühstücks. Wieder teilte er auf seine gerechte und selbstlose Art. Neben dem aufgeschnittenen Brötchen lag diesmal ein eingelegter Brathering, der mir mit seiner faltigbraunen, verschrumpelten Haut jeden Tag noch toter erschien als er ohnehin schon war. Nicht ohne Grund sagt man der beliebten Bordverpflegung nach, dass der uralt erscheinende Fisch wahrscheinlich ein Seefahrtsbuch mit ewiger Fahrzeit dabei hat.

Wilhelm aß dann seine kleine bescheidene Hälfte Brathering mit Genuss. Noch größere Freude bereitete ihm offensichtlich meine widerstrebende Esserei. Die totale Vernichtung des Außenbordskameraden wurde von ihm unerbittlich überwacht. Bis auf Kopf, Gräte und Schwanzende hatte ich ihn trotz Gummizähnen und beleidigten Geschmacks – und Magennerven zu vertilgen. Der Rest durfte dem Indischen Ozean übergeben werden. Vorher geäußerte Wünsche mit der fischigen Leiche nach draußen an die frische Luft zu gehen, wurden rundweg abgelehnt. Zu durchschaubar war wohl der Plan, in einem unbeobachteten Moment den Hering seinem eigentlichen Element zu übergeben. Eine Seebestattung wurde unterbunden. Doch nicht genug mit diesem zweiten Imbiss. Als krönender Abschluss folgten, die beim Nachtsteward extra georderten Schnittchen, die die verwöhnten Fahrgäste über Nacht auf den Silbertabletts übrig gelassen hatten. Da wurden mir dann köstlich garnierte Schinkenröllchen, diverse Käsehäppchen, Kaviar und auch Räucheraal kredenzt. Ich war immer der Meinung, dass der menschliche Magen ein begrenztes Fassungsvermögen hat. Doch weit gefehlt, bis zu unserer Ablösung um acht Uhr hatte ich unter leichtem Zwang die Köstlichkeiten der Fahrgastverpflegung, manchmal weniger, manchmal mehr, runtergewürgt. War ich einmal unwillig, so wurde mit der Drohung (der leichte Zwang!!), die Ruderautomatik abzustellen, für das letzte verbliebene Schnittchen Platz geschaffen. Wer steht schon gerne vier Stunden hinter dem Ruderbock. Die Krönung setzte Wilhelm dem ganzen Geschehen auf, wenn er einem Frühaufsteher und zufälligen Besucher der Brücke, der meinen augenscheinlichen Appetit bemerkte, und vielleicht mehr oder weniger offen bewunderte, erklärte:

„Der Pahl isst einfach alles.“

Auf das anschließende Frühstück in der Mannschaftsmesse habe ich schweren Herzens verzichtet.