Eiszeit

Gäste unserer Insel und auch alteingesessene Norderneyer haben immer wieder angezweifelt, dass das Fahrwasser zwischen Insel und Festland ein durchaus anspruchsvolles Revier darstellt. Zweifler und Besserwisser werden meine Ausführungen auch kaum vom Gegenteil überzeugen. Die Seeleute wiederum können nicht von ihrer Überzeugung abgebracht werden, dass die besten „Kapitäne“ ohnehin auf den Ruhebänken an Land sitzen. Die tagtäglichen Reisen ohne erwähnenswerte Vorkommnisse verleiten den laienhaften Beobachter zu der Annahme, dass die Fähren ähnlich einem Straßenfahrzeug durch die Nordsee zu fahren bzw. zu führen sind. Nur auf dem Wasser ändern sich häufig von Stunde zu Stunde die „Straßenverhältnisse“. Neben Ebb – und Flutstrom und zahlreichen Untiefen haben die jeweiligen Wetterverhältnisse großen Einfluss auf das Fahrverhalten der Fähren. So richten sich die jeweiligen Anlegemanöver in Norddeich, Norderney und den anderen Inseln nach der gerade herrschenden Windrichtung, den Sichtverhältnissen und der Richtung des Gezeitenstroms. So sollte es einem Zweifler einleuchten, dass der Dienst auf diesen Schiffen in der Wattfahrt auch bei schönstem Wetter die volle Konzentration erfordert. Bei Nebel– und Sturmfahrten ist diese Hochspannung auf der Kommandobrücke fast greifbar. Um auch die kleinste Ablenkung auszuschließen, ist bei solchen Reisen die Brücke für den Publikumsverkehr tabu. Ignoranten dieses ungeschriebenen Gesetzes merken sehr schnell, dass sie fehl am Platze sind. Die Seemannschaft, gepaart mit jahrelanger Erfahrung, bewahrt einen trotz alledem nicht vor unerwünschten Erlebnissen.

Einer der kältesten Winter der letzten Jahre hielt die Nordseeküste und die vorgelagerten Inseln fest in seinem Griff. Die ohnehin sibirischen Außentemperaturen wurden durch den wochenlangen Ostwind fühlbar verstärkt. An den Stränden schichteten sich ineinander geschobene Eisschollen zu bizarren Türmen auf. Auf der Wattseite der Insel vollzog sich jede Tide unsichtbar unter einer dicken, geschlossenen Eisschicht, die sich übergangslos im eisgrauen Horizont verlor. Der Hafen bot ein ähnliches Bild. Einige von Kindern auf die Eisfläche geworfene dicke Klinker zeugten von der Festigkeit und Dicke der winterlichen Pracht. Den Schiffsbesatzungen der Fähren und Frachtschiffe bescherte die andauernde Kälte eine ruhige Zeit. Sofern man nicht den noch ausstehenden Urlaub geltend machen konnte, standen Überholungsarbeiten am Schiff, zur Vorbereitung auf die kommende Saison, an. Der Fährverkehr zu den ostfriesischen Inseln war in den ersten Wochen dieser Eiszeit nur noch eingeschränkt möglich. Nach und nach wurden die Verbindungen wegen der beständigen Ostwindlage, den damit verbundenen extremen Niedrigwasserstände und dem zunehmenden Eisgang eingestellt. Die notwendige Versorgung der Inseln lag nun in den Händen der Piloten von Kleinflugzeugen. Neben Krankentransporten wurden auf diesem Weg u.a. auch die Apotheken mit Medikamenten versorgt. Ganz zu schweigen von dem täglichen Bedarf an Zeitungen, Lebensmitteln und der abgehenden und ankommenden Post. Der fehlende Pendelverkehr der Fähren vermittelte den wenigen Wintergästen und vielen Insulanern das Gefühl, auf der Abgeschiedenheit einer weltfernen Insel im Polarmeer zu leben. Der Würgegriff des Winters lockerte sich ein wenig, als die Großwetterlage auf dem Atlantik mit dem berühmten Hoch über den Azoren die bittere Kälte milderte und der kräftige Nordwest – Wind Wasser in die Deutsche Bucht und ihre Küstengewässer blies. Die geschlossene Eisdecke über dem Wattenmeer wurde aufgebrochen und kam mit dem Flut – bzw. Ebbstrom in Bewegung. Nach langer erzwungener Winterpause sollte dieser Umstand für einen ersten Reiseversuch in Richtung Festland und zurück genutzt werden. Die Wahl fiel auf die „Frisia VIII“ und mich, weil das Schiff rein zufällig die ungewollte Winterpause im Hafen der Insel verbrachte. Gute zwei Stunden nach Niedrigwasser, mit dem nun langsam wieder stärker auflaufenden Wasser, legte das Schiff ab. Das Interesse an dieser ersten Reise in Richtung Festland war, wenn man die vollbesetzten Salons in Betracht zieht, riesig. Auch das Autodeck war bis auf den letzten Platz belegt. Der sonnige Wintermorgen lockte viele der Fahrgäste auf die offenen Decks. Selbst der immer noch eisige Fahrtwind konnte sie nicht davon abhalten, dieses mühselige Unterfangen der „Frisia VIII“ gegen den leichten Flutstrom und die in das Watt driftenden Eisschollen zu fahren, zu beobachten. Gut eine Stunde haben wir für die Strecke gebraucht, bis wir unterhalb der Marienhöhe dann mit dem Tidenstrom unseren Kurs auf die Hafeneinfahrt von Norddeich absetzen konnten. Das auflaufende Wasser riss Lücken in die geschlossene Eisdecke und ab und an drängten unverhofft Tonnen der Winterbetonnung an die Wasseroberfläche. Die Fahrt durch den engen Fahrwasserschlauch der Norddeicher Hafeneinfahrt dauerte eine kleine Ewigkeit, weil die beiden Hafendämme seitlich des Fahrwassers ein Verschieben der gebrochenen Eisdecke und der dicken Eisschollen behinderte. Das eingeleitete Anlegemanöver vor dem Molenkopf gestaltete sich relativ einfach, weil das kleine Fahrgastschiff Frisia X als Pseudoeisbrecher ganze Arbeit geleistet hatte. Doch vor der Anlegestelle im Westhafen kam es zu einer weiteren Verzögerung. Unbekannte Randalierer hatten unbemerkt in der Nacht zuvor zwei leere Bierfässer auf die Eisfläche unterhalb der Autobrücke geworfen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Mitarbeiter der Reederei, Hafenbehörde und das THW diese Hindernisse beseitigt hatten. Diese nicht voraussehbare Verzögerung machte die Planung, vor dem Einsetzen des vollen Ebbstromes das Hafenfahrwasser Norddeichs hinter sich zu lassen, zunichte. Trotz aller Eile bei der End – und Beladung des Schiffes konnte nicht verhindert werden, dass mittlerweile das Kentern des Tidenstromes gut zwei Stunden zurücklag. Vor unseren Augen drifteten riesige Eisfelder aus dem Wattenmeer auf die offene See zu. Die kräftigen Motoren und die guten Manövriereigenschaften der Frisia VIII konnten nicht verhindern, dass das Schiff kurz nach dem Verlassen des Hafenfahrwassers und des Nordeicher Hafenschlauchs von einem dieser Eisfelder eingeschlossen und mitgenommen wurde. Alle Versuche sich aus dieser misslichen Lage zu befreien scheiterten kläglich. Die unfreiwillige Reise hatte dann auf einer der großen Sandbänke zwischen Juist und Norderney ein befürchtetes Ende. Das Schiff wurde sanft auf die Untiefe geschoben und die riesigen Eisfelder drifteten ohne uns in Richtung offenes Meer. Nach einigen vergeblichen Befreiungsversuchen wurden Reederei, Behörden und natürlich die Fahrgäste von der Situation in Kenntnis gesetzt, dass man wohl auf das nächste Hochwasser angewiesen wäre, um die unfreiwillig unterbrochene Reise fortsetzen zu können. Bei den in regelmäßigen Abständen durchgeführten Kontrollgängen des Kapitäns und der Besatzung konnten wir beruhigt feststellen, dass die geräuschvoll an den Bordwänden vorbeidriftenden Eisfelder keinerlei Bedrohung für Fahrgäste und Schiff darstellten. Bei den gesuchten Kontakten und Gesprächen mit den Fahrgästen war zu spüren, dass sich abwartende Gelassenheit breit machte. Der Umstand, dass die Reederei kostenfrei für das leibliche Wohl sorgte, trug zur allgemeinen Entspannung bei. Lediglich einige Freizeitkapitäne, mit gutgemeinten Ratschlägen, gingen uns auf der Kommandobrücke während der unfreiwilligen Wartezeit auf die Nerven. Im Zeitalter des Handys blieb es auch nicht aus, dass neben der Reederei auch wir ständig von besorgten Angehörigen unserer Gäste angerufen wurden. Zu allem Überfluss meldete sich dann neben der Presse auch noch ein Radiosender, mit dem Wunsch und dem einleitenden Satz: „Wir sind auf Sendung.“

In den Abendstunden und mit dem einsetzenden Flutstrom kam Bewegung in das Schiff. Nach einer entsprechenden Lautsprecherdurchsage verebbte auch der Besucherstrom der Freizeitkapitäne. Auf der Brücke machte sich erwartungsvolle Anspannung breit. Nach einigen vergeblichen Anläufen schob sich die Frisia VIII langsam, Meter für Meter, von der Untiefe. Im Licht der beiden Suchscheinwerfer schoben wir uns in die Fahrrinne und nahmen Fahrt auf, um nach vierzehn Stunden den Heimathafen Norderney zu erreichen. Das letzte Hindernis dieser langen Reise war das mit Packeis vollgeschobene Fährbecken des Anlegers. Nach etlichen Anläufen hatten wir auch diese Eisbarriere beseitigt. Trotz später Stunde gab es seitens der Fahrgäste keinerlei Beschwerden und Klagen. Zum verdienten Feierabend gab es für die gesamte Besatzung noch einen kleinen Umtrunk. Auch die Inspektion der Reederei ließ sich nicht lumpen und beteiligte sich an dieser kleinen Feier.

Von meiner Frau erfuhr ich, dass sie einen Telefonmarathon hinter sich hatte. Besorgte Angehörige unserer Fahrgäste erhofften nähere Auskünfte über den weiteren Verlauf der Reise. Vermutlich vermuteten die Anrufer, dass die Frau des Kapitäns Interna wüsste und weitergeben würde. Der absolute Höhepunkt dieser ständigen Telefonate war der Anruf unserer alten Nachbarin mit folgender Mitteilung: „Frau Pahl, Frau Pahl, ich bin ja so gerührt. Ich habe Ihren Mann im Radio gehört.“