Endstation

In Ortschaften der Größenordnung Norderneys werden gerade in der Winterzeit Vereinsfeste, private und geschäftliche Jubiläen, Hochzeiten und andere Festlichkeiten, mit wahrer Begeisterung gehegt und gepflegt. Das gerade die kalte Jahreszeit mit derlei Kurzweil gespickt ist, kommt nicht von ungefähr. Ohne Frage liegt es wohl in erster Linie an der Tatsache, dass man im Sommer zu viel um die Nase hat mit all den Wünschen der Kur– und Badegäste, die jedes Jahr die Insel wie hungrige Heuschreckenschwärme überfluten. Die Insulaner sind dann so angestrengt mit dem Geldverdienen beschäftigt, dass sie keinerlei Interesse an dem kleinstädtischen Vereinsleben – und Klüngel haben. Man vertieft sich so in seine Aufgaben, dass selbst die Hechelei über andere Leute und das Getratsche und Gequatsche unter Nachbarn und Freunden entschieden zu kurz kommt. Böse Zungen behaupten sogar, dass der Stress so weit geht, dass Streitereien und selbst das Sterben der alten Leute auf den Winter verlegt wird. Dafür kennt die Vergnügungssucht mit dem Ende der Saison und den ersten knackig – kalten Wintertagen schier keine Grenzen mehr. Für „Vereins – Meier“ ist die schnelle Abfolge von Stiftungsfesten und Bällen oft eine körperliche Strapaze – einem Marathon nicht unähnlich. Im Stillen mag da so manches pflichtbewusste Vereinsmitglied den Frühjahrsputz, Vorbote für die beginnende Sommersaison, herbeigesehnt haben. Ich erinnere recht gut an eines dieser bedauernswerten Opfer. Mein ehemaliger Physik-Lehrer, der als Flüchtling aus der DDR wegen seiner Geselligkeit und seiner Liebe zu alkoholischen Getränken mit weiten Armen in örtlichen Vereinen aufgenommen wurde. Beim Heimatverein brachte er es als gebürtiger Sachse immerhin zum Chorleiter. In der Feuerwehr wird er, da er mehrere Instrumente beherrschte, im Musikzug unabkömmlich gewesen sein. Ihm wurden drei aufeinander folgende Stiftungsfeste zum Verhängnis. Die Alkoholvergiftung wurde im örtlichen Krankenhaus behandelt. Sehr zum Ärger seiner Frau, die in diesem besagten Haus als Stationsschwester arbeitete. Mit der zu erzählenden Geschichte kann er nicht in Verbindung gebracht werden, letztere soll sich lange vor seiner Zeit zugetragen haben. Die sehr lückenhafte Überlieferung drängt mich zu dem Geständnis, dass der Ablauf des Geschehens nur mit einigen dichterischen Freiheiten zu Papier gebracht werden konnte, die man mir großmütig nachsehen möchte. Unwiderlegbar ist die Tatsache, dass ein Teil unserer Einwohnerschaft und die unserer Nachbarinsel Juist an dem Geschehen beteiligt waren.

Bei den aufgezählten Möglichkeiten beschwingt durch den Winter zu kommen, habe ich bewusst eine weitere, sozusagen in stiller Reserve gehalten. Mit dem Modetrend angestaubte Dinge wieder zum Leben zu erwecken, lebten überlieferte Bräuche wieder auf. Vielerorts werden die Jahreszeiten gebührend begrüßt. Dieser Brauch beschränkte sich bei den Insulanern mit kleinen Ausnahmen fast ausschließlich auf den Winter. So wird in einigen Kneipen und Lokalen in der Vorweihnachtszeit zum Nikolaustag der Würfelbecher geschüttelt und verbissen um Augen und Fressalien – von der Pralinenschachtel bis zum kapitalen Sonntagsbraten – gewürfelt. Seltsamerweise behaupten am nächsten Tag alle Beteiligten einen dicken Reibach gemacht zu haben.

Zur Osterzeit vertreibt man die winterliche Kälte, die vom Meer über die Weite des Strandes streicht, mit korngefüllten Flachmännern und gewaltigen Osterfeuern, in denen die knochentrockenen, entnadelten Tannenbäume der Weihnachtszeit knistern und knacken. Mag sein, dass ich den einen oder anderen gehegten Brauch übergangen bzw. unterschlagen habe. Der Abschluss und Ausklang der oft in das Frühjahr hineinreichenden winterlichen Feste bildet das Aufstellen des Maibaumes, mit dem natürlich nie fehlenden Umtrunk. Die Norderneyer haben diesen Brauch auf Pfingsten verlegt, Gründe für diese Verlegung sind mir unbekannt. Die Behauptung, die Folkloregruppe des Heimatvereins dürfte nicht übermäßig strapaziert werden, halte ich für ein bösartiges Gerücht. Vielmehr ist es doch so, dass zu Pfingsten die ersten verfrühten Kurgäste mit Tänzen um den Pfingstbaum unterhalten werden können. Dieses Brauchtum kommt ohne Frage vom ostfriesischen Festland und mit ein wenig Neid lauscht man den Erzählungen über die Husarenstücke einzelner Dorfgemeinschaften beim Stehlen des Prachtstücks aus der Nachbargemeinde. Die Abgeschlossenheit einer Insel macht sich hier wieder unangenehm bemerkbar. Der Diebstahl des Baumes in der eigenen Gemeinde ist eher verpönt und macht böses Blut. Die Glanzleistung eines angeblich ortsansässigen Boßelvereins, der in mühseliger Nachtarbeit unbemerkt den Pfingstbaum vom Kurplatz stibitzte und vor dem Norderneyer Polizeirevier ebenso unbemerkt wieder einpflanzte, fand nie die richtige Würdigung. Man war ganz im Gegenteil äußerst verstimmt und beleidigt. Der Heimatverein gab sich gekränkt und in der Ehre verletzt und strafte kollektiv die ganze Gemeinde nebst frühen Kurgästen, indem man die Tänze um den gestohlenen Pfingstbaum ausfallen ließ. Interessant wäre in diesem Zusammenhang gewesen, wie die winterlich unterbesetzte Polizeistation das Ungetüm vor ihrer Tür wieder losgeworden ist. Ich kann mich erinnern, dass ich beim feierlichen Setzen des Baumes einmal ein rundes Dutzend kräftiger Männer gezählt habe. Ja, unzweifelhaft war man in jenem Jahre wieder mit dem Näherrücken des Wonnemonats Mai auf die Erzähler der tollsten Diebereien neidisch. Und die vielen Fässer Bier, die nötig waren, um die Ehre des Dorfes zu retten und den verschwundenen Baum wieder zu beschaffen, rundeten die neidvollen Gefühle nur noch ab. War es im Grunde doch recht simpel mit einer Übermacht, dem oft nur mangelhaft bewachten Maibaum habhaft zu werden. Vielerorts genügte es schon, so sagt es die ungeschriebene Regel, dass man unter dem mit bunten Bändern geschmückten Kranz trat und am Stamm einen symbolischen Spatenstich ansetzte. In den seltensten Fällen musste man zu rabiateren Methoden greifen. Als Paradebeispiel hat man bestimmt nicht jene Untat herangezogen, die vor Jahren von 86 Schiffsjungen in Elsfleth verübt wurde. Die angehenden Seeleute büxten heimlich aus ihrem Internat aus und überfielen in einer Nachbargemeinde die völlig überforderte Wache des Maibaums. Der geknebelte und zu einem Paket verschnürte Wachposten konnte nichts über den Verbleib des Maibaums aussagen.
Der Wunsch nach der Blamage einer Nachbargemeinde und die zu erwartende Auslösung wurden bei gemeinschaftlichen Stammtischträumereien geradezu übermächtig. Gesangvereine, Stammtischbrüder, Knobelrunden und sonstige Verbindungen schmiedeten in jedem Jahr für den Wonnemonat Mai großartige Entführungspläne. Es blieb der „Freiwilligen Feuerwehr“ unserer Inselgemeinde schließlich vorbehalten, diesen allgemein lang gehegten Traum vieler Vereine zu realisieren. Da ich häufig aus beruflichen Gründen nicht auf der Insel weilte, blieben mir die Gerüchte über die exzellente Vorbereitung verborgen. Man hat auch später, aus verständlichen Gründen, wenig oder auch gar nichts verraten. So möge man es mir nachsehen, wenn sich meine Nacherzählung, die sich nur auf äußerst spärliche Informationen stützt, nicht ganz mit dem tatsächlichen Tathergang in Deckung bringen lässt. Unzweifelhaft ist der Gedanke im insularen Spritzenhaus vor oder nach einer Übung geboren worden. Ich mache mich keiner Verleumdung schuldig, wenn ich die Väter des Gedankens tief in das Korn – oder Bierglas schauen lasse. Mag sein, dass es anfangs auch eine kameradschaftlicher Atmosphäre geborene Schnapsidee war, die in ihren Anfängen nie einen ersthaften Willen als Hintergrund hatte. Man wird sich gegenseitig in der ideenschwangeren Runde in immer phantasievolleren Plänen überboten haben und dann stand der mattsetzende Schachzug plötzlich in den kleinsten Einzelheiten fest. Die Durchführung in der bierseligen Stimmung sozusagen ein Klacks. Die Tatsache, dass der jährliche Betriebsausflug ohnehin noch ausstand, war, wenn man so will, das „i – Tüpfelchen“ der ganzen Planung. Die Wahl der zu schröpfenden Gemeinde fiel wie selbstverständlich auf die Nachbarinsel Juist, deren Dächer und Kurhaus bei klarer Sicht zu uns herübergrüßen. Für Borkum wäre das Unternehmen wohl zu aufwendig gewesen. Und Baltrum wäre bei der geringen Einwohnerzahl kein ebenbürtiger Gegner. Außerdem stand, wenn ich mich recht erinnere, zu jener Zeit der winzigen Inselgemeinde ein Norderneyer als Bürgermeister vor – und das wäre dann nach erfolgreicher Tatausführung schon fast wieder einem Eigentor nicht unähnlich gewesen. Die anderen Inseln kamen wegen der zu großen Entfernung und den Tidenverhältnissen schon gar nicht in Betracht. Auf das Festland traute man sich nicht. Die Erzählungen ließen vermuten, dass man da in den einzelnen Dörfern und Gemeinden sehr erfolgreich in der Abwehr von diebischen Absichten war. So blieben die Juister schließlich übrig, die mit diesem Brauch auf Grund ihrer Insellage vermutlich ebenso unbedarft und unerfahren wie die Norderneyer selber waren. Schließlich gab es noch einen Umstand, der als besonders glücklich zu bezeichnen war. Beide Inseln werden mit Fähren und Fahrgastschiffen der Reederei“ Norden – Frisia“ angelaufen. So war es eine reine Formsache, eines der kleineren Schiffe für das als Betriebsausflug getarnte Unternehmen zu chartern.

Am Tage x formierte sich in den frühen Morgenstunden die dunkelrotblau uniformierte, geschniegelte und gebügelte Inselwehr vor dem Spritzenhaus. Wenig später ging es im flotten Tritt – der Musikzug mit viel Blech, dem dumpfen Gedröhne der Kesselpauke, dem harten Wirbel der Trommeln, den schrillen Zwischentönen der Pikolopfeifen und dem Geklingel des Schellenbaumes voran – quer durch den sonntäglich verschlafenen Ort. Der schmetternde Lärm mag die letzten Schläfer aus den Federn gescheucht haben und verklang nur zögernd auf ihrem Weg zum Hafen und dem an der Pier vertäuten Schiff. Man war in festlicher Stimmung und während der kurzen Reise wurde wohl auch noch ordentlich am Tresen der Schiffskantine eingeheizt. Kaum wird ein Blick rübergewandert sein, zu der in der Morgensonne erglänzenden Front, den oberhalb des Strandes gelegenen Hotels und Pensionen. Vielleicht wird der eine oder andere Frühaufsteher das Abbiegen des Schiffes in das Pricken bestandene Juister Wattfahrwasser bemerkt haben. Mit dem näher rückenden Dünengürtel der Nachbarinsel und dem in Sicht kommenden Anleger, wurde es zusehends stiller im Schiff. Einigen der Freiwilligen mögen auch noch Bedenken gekommen sein und sie hätten in quasi letztem Moment doch nur einen Ausflug daraus gemacht. Doch das Ende der Seereise ließ solche Gedanken nicht mehr laut werden. Schon dampfte, mit schrillem Willkommenspfiff, die Inselbahn in das Bild und verharrte abwartend einladend am Ende des Schienenstranges. Sanft schob sich der Dampfer an die Pier und wurde vertäut. Über die angelegte Gangway drängten von Posaunen, Trommeln und Kesselpauke geschoben die blaurotuniformierten, geschniegelten und gebügelten Feuerwehrleute an Land, in die wartende Inselbahn. Man löste wohl eine vereinsübliche Sammelkarte für Gruppenreisende, die die Rückfahrt preisgünstig einbezog. Abteiltüren schlugen zu und im Zuckeltempo ging es über den wackeligen Seesteg zum Bahnhof Juist. Für große Absprachen reichte die kurze Fahrt mit der Eisenbahn kaum. Vielleicht zischte man sich die eine oder andere Instruktion zu, bevor der Zug schnaufend und quietschend zum Stehen kam und die vor den Türen drängenden Uniformierten noch einmal unsanft durcheinander warf. Man sammelte sich auf dem Bahnhofvorplatz und formierte sich wie gewohnt zu Reihen in Straßenbreite. Hinter Tambourmajor und Schellenbaum bauten sich Trommler, Pfeifer und Bläser auf. Den Abschluss der imposanten Schlange bildeten einige Wehrmänner, die in Sackleinen gehülltes Gerät mit sich führten. Auf ein Zeichen des Tambourmajors ging es mit klingendem Spiel durch die Straßen, bald gefolgt von einer lärmenden Kinderschar. Man machte ein paar elegante Bogen und Schlenker und überflutete Straßen, Gassen und Promenade mit Musik. Selbst, als der Zug in das Kurviertel einbog und vor dem Kurhaus unter dem Maibaum Halt machte, schöpfte niemand den leisesten Verdacht. Einwohnerschaft und die wenigen frühen Gäste, durch den Lärm angezogen, hielten es wohl mehr für einen überraschenden, aber durchaus nicht unüblichen Besuch eines Spielmannzugs, der bei einem Platzkonzert sein Können zur Schau stellt. Die Vermutung schien auch richtig, denn die Kapelle drängte sich halbkreisförmig unter den flatternden Bändern des Maibaumkranzes und gab ohne Zweifel ihr Bestes. Mit schmissigen Weisen ging man schließlich zum Angriff über. Mit fliegenden Spaten entfernte man den stützenden Sand. Begreifen und Verstehen kam wohl erst über die Zuschauer, als der Maibaum sich sanft neigte und von kräftigen Fäusten vollends aus dem Erdreich gerissen wurde. Als dann wurde er in seiner ganzen Länge geschultert und der Musikzug nahm die Beute schützend in seine Mitte auf. Der Tambourmajor schwang den Stab siegreich – zackig und mit klingendem Spiel trat man den Rückzug an. Ohne jegliche Schnörkel – vielleicht gerade einen geschmetterten Marsch lang – erreichte man wieder den Bahnhofvorplatz. Nur einen Moment stand man samt Maibaum unschlüssig und etwas ratlos vor dem winkeligen Eingang zum Schalter und Bahnsteig. Doch auch dieses Problem löste bzw. umging man elegant. Die Beute wurde über den an das Bahnhofsgebäude grenzenden Zaun gehievt und eilends zum wartenden Zug transportiert. Die Musiker hatten mittlerweile die beiden letzten Wagen des Zuges mit allen Abteilen besetzt und hingen in Trauben aus den Fenstern. Das Beutestück wurde lärmend und lachend zu den Fenstern hochgehoben und kräftige Arme hakten den Baum unter. Bei der stattlichen Länge ragte das Ende mit dem Birkenkranz noch über die Schlusslichter des Zuges hinaus. Die Stimmung mag gewaltig und siegestrunken gewesen sein, und so ist es durchaus glaubhaft, dass sich in das schrill pfeifende Abfahrtssignal der Lokomotive die Melodie „Muss i denn zum Städtele hinaus“ mischte, ja fast übertönte. Doch der Siegestaumel wurde je durch schweigende Bestürzung abgelöst, als die immer noch pfeifende und prustende Lokomotive mit einigen wenigen Wagen in Richtung Deich und Seesteg verschwand und die abgekoppelten beiden letzten Wagen verwaist auf dem Bahnhof zurückließ.
Über den weiteren Verlauf der Geschichte schweigt sich die Mehrheit der beteiligten Feuerwehrleute verbissen aus, und wir wollen ihnen in dieser meiner Erzählung den peinlichen Rückweg und die Schadenfreude der Juister ersparen. Tatsache ist nur, dass sie ohne ihr Beutestück auf der heimatlichen Insel landeten und sich schweigend und ohne viel Aufhebens nach Hause verdrückten.