Medizinisches Know-how, K.O. Tropfen und eine himmlische Begebenheit

Abgesehen der alle zwei Jahre auf dem Programm stehenden Gesundheitskontrolle beim zuständigen Amtsarzt und den vorbeugenden Spritzen gegen Gelbfieber und Cholera war man den medizinischen  Künsten eines zweiten oder dritten Offiziers ausgeliefert. Während der Studienzeit an der Seefahrtschule in Leer versuchte man uns angehenden „Schiffsärzten“ die Grundzüge einer medizinischen Versorgung an Bord  einzutrichtern, jedoch war es rein theoretisches Wissen. Verwunderlich war es deshalb schon, dass man das an einer Apfelsine trainierte intramuskuläre Setzen einer Spritze später in der Praxis zielsicher beherrschte. Zur Vertiefung der Krankenpflege an Bord wurden seitens der Reedereien immer wieder entsprechende Lehrgänge angeboten.

Unvergessen der Lehrgang im Hafenkrankenhaus in Hamburg. Wobei die Praxisnähe nach den ersten Anläufen um einen Punkt gestrichen wurde. Zu viele Seeleute waren im Keller des Instituts beim Sezieren einer Leiche ohne Vorankündigung auf die nackten Fliesen geknallt. Bei der täglichen Visite, Verbandswechsel und Arbeiten im Gipsraum wurde uns die Praxis vermittelt. Spannend wurde es bei der freiwilligen Arbeit in der nächtlichen Notaufnahme. Zumal St. Paulis Vergnügungsviertel im Einzugsbereich dieses Krankenhauses liegt. So war es wenig verwunderlich, dass eine Dame mit großem Geschrei und zwei gebrochenen Hacken am nächsten Morgen aus der Damenabteilung entfernt wurde. Der Transvestit fand es „shocking“ in die Männerabteilung verlegt zu werden.

Auch in späteren Jahren wurden in unregelmäßigen Abständen medizinische Fortbildungen angeboten, die ich gerne angenommen habe. Zu gut konnte ich mich selber daran erinnern, dass man sich häufig nur ungern einem verhinderten „Professor Sauerbruch“ ausgeliefert sah. Während einer Australienreise, unter dem viel besungenen Kap Hornier Gottfried Clausen, wurde ich beinah Opfer eines chirurgischen Eingriffs. Beim Auftakeln eines der beiden Schwergutbäume wurde ich von einem anderen Matrosen mit einem ungeschickt ausgeführten  Hammerschlag in das Reich der Träume geschickt. Die heftig blutende Platzwunde und das zuschwellende Auge  verliehen mir das Aussehen eines Preisboxers.  Folgeschäden wurden übrigens nie festgestellt. Meine strikte Weigerung mich von unserm Bordmedikus nähen zu lassen, rief Gottfried auf den Plan. Meine Ablehnung wurde erst akzeptiert, als ich seine Frage: „Mein Sohn hat er den Angst um seine Schönheit?“, bejahte. Die Ärzte im Krankenhaus von Freemantle haben anschließend mit einer schönen Naht mein Aussehen restauriert.

 

Wobei manchmal von  einem Arztbesuch im Ausland auch abzuraten ist. Leider kommt man erst nach dem Besuch zu der Erkenntnis.

Nachdem Schmerztabletten und das Hausrezept vom Koch  (Gewürznelken) kläglich versagt hatten, wurde der Weg zum Zahnarzt in Keelung auf Taiwan unumgänglich. Die Praxis lag ebenerdig in einem Gebäude der Hauptgeschäftsstraße. Erst im Behandlungsstuhl bemerkte ich an den vielen Zuschauern, dass man den Zahnarzt und seinen Patienten von drei Seiten, wie in einem Theater beobachten konnte. Europäer in einer misslichen Lage erwecken immer die Neugier und die Schadenfreude der Asiaten. Der Doktor war wenig beeindruckt von mehr als einem Dutzend platter Nasen und fuhrwerkte in meinem Mund herum. Dabei zeigte und erzählte er mir voller Stolz von all seinen Praxiserrungenschaften, die aus dem fernen Deutschland stammten. Doch leider konnte ich ihn nicht davon abhalten, mir nach einer Betäubungsspritze den kariösen Übeltäter zu ziehen.

An Bord setzten mit dem Abklingen der Betäubung die mir bekannten Beschwerden wieder ein. Der wahre Verursacher wurde dann in Penang/Malaysia entfernt.

Bei schweren Unfällen oder Erkrankungen hatte man auf See drei Möglichkeiten. Einen Nothafen anlaufen oder das Fachpersonal eines in der Nähe befindlichen Fahrgastschiffes zu bemühen, oder einen Arzt über Funk um Beratung oder Assistenz zu bitten, ist die und unbeliebte dritte Notlösung.

Ich selber bin nur einmal in all den Jahren in diese Verlegenheit gekommen. Unser Elektriker hatte bei Fräsarbeiten  einen Metallsplitter ins Auge bekommen. Trotz aller Bemühungen wollte es einem Kollegen und mir nicht gelingen den Splitter per Magneten oder Pinzette zu entfernen. Mit Hilfe der Seefunkstation Norddeich und einem Funkarzt rückten wir dem winzigen Metallstückchen per örtlicher Betäubung und einem Skalpell erfolgreich zu Leibe. Bei dieser Aktion hatten wir entschieden mehr Angst als unser hinterher dankbarer Patient.

An einen meiner beiden stationären Krankenhausaufenthalte  im Ausland erinnere ich mich gerne. In Singapore wurde ich ins Hospital eingeliefert, weil mir ein schlecht verheilter Bruch des kleinen Fingers noch einmal gebrochen werden musste. Die Alternative einer Fingeramputation hatte ich entsetzt abgelehnt. In dem Achtbett-Zimmer war ich ohne Frage der  gesündeste Patient. So habe ich das Verwöhnprogramm der malayischen Schwestern auch mehr als genossen. Nur den Versuch von vier kichernder Schönheiten mich vom Bett auf die Operationsliege zu hieven, habe ich dann doch unterbunden. Nach drei Tagen musste ich schweren Herzens Abschied nehmen von den sieben Kollegen anderer Nationen, dem reizenden Personal und den über Wände und Decken huschenden Geckos, die uns vor Moskitostichen bewahrt hatten.

Wesentlich schlechtere Erinnerungen habe ich an den Krankenhausaufenthalt in Jeddah/Saudi Arabien. Eingeliefert wurde ich mit Fieberschüben und einem unförmig angeschwollenen Fuß. Ohne den Grund der Erkrankung zu kennen, wurde ich erst einmal pro forma mit Penicillin voll gepumpt An dem Verlauf dieser rheumatischen Erkrankung änderten die Ärzte damit gar nichts. Die eigentliche Katastrophe für mich war allerdings das Essen. Abgesehen von dem Frühstück, Weißbrot und Saudi-Milch, gab es zu allen anderen Mahlzeiten gekochten Hammel in schrecklichen Varianten; ich hasse Hammel. Am Leben erhalten haben mich die Zuwendungen meines Bettnachbarn. Die Frauen dieses jungen Saudis  legten nach zwei oder drei Tagen jegliche Scheu ab und servierten mir im Laufe des Nachmittags  unverschleiert Tee und Gebäck.

Nach einer Woche wurde die  Behandlung eingestellt, weil die Bezahlung durch die Agentur meines Brötchengebers nicht gesichert sei. Angeblich waren auch meine Papiere verschwunden und Flüge in Richtung Heimat auf Wochen ausgebucht. Mit Hilfe der netten philippinischen Schwestern bekam ich dann eine telefonische Verbindung mit der Auskunft des Flughafens. Plötzlich ging es dann ganz schnell. Abends saß ich schon in einem Flieger mit dem Reiseziel Paris.

Meine ungewollte Abmagerungskur und die uralten Krücken müssen bei der Klofrau auf dem Flughafen Charles de Gaulle Mitleid erregt haben. Trotz sprachlicher Schwierigkeiten hat sie nämlich meiner Bitte entsprochen und mich in ihrem ganz privaten Bad duschen lassen. Wobei ich mich mit rund zehn Meter Handtuch von einer abgerollten Automatenrolle abtrocknen durfte.

Bei Hapag-Lloyd in Hamburg war man mehr als erstaunt von meiner Krankmeldung aus Norderney. Anscheinend hatte man mich noch nicht einmal auf der Vermisstenliste.

Abgesehen von diesem Krankenhausaufenthalt verliefen meine Wehwehchen in dem üblichen Rahmen. Neben den Tabletten gegen einen „ dicken Kopf“ habe ich den Bordmedikus möglichst wenig konsultiert. Allenfalls versuchte man ab und an die leckeren Pastillen ( Mixtura Solvens ) gegen Halsschmerzen abzustauben. Letztere wurden dann wegen des enormen Verbrauchs gegen entsetzlich schmeckende Gurgeltabletten (Malebrin) ausgetauscht. Daraufhin wurde nur noch selten Entzündungen des Rachenraumes in das Krankenbuch eintragen.

 

Reichlich Schmerztabletten habe ich tagelang nach einem Kneipenbesuch in Valparaiso (Chile) geschluckt. Gleich das erste Glas Pisco Sour hat man mir, derweil ein Taschenspieler mich mit Streichhölzer-Tricks abgelenkt, mit K.-o.-Tropfen verfeinert. Stunden später wachte ich heulend mit einem schrecklichen Kater auf einer Treppe im Hafen wieder auf. Sämtliche Ausweise und die Geldbörse waren verschwunden. Wobei die privaten Fotos und Ausweise mir später von einem kleinen Chilenen wieder ausgehändigt wurden. Die Heimfahrt mit dem Taxi konnte ich dennoch bezahlen. Meine eiserne Reserve in dem aufgerollten Hemdsärmel hatten die Räuber nicht gefunden.

Behandlung und Krankheitsverlauf mussten an Bord schriftlich im Krankenbuch festgehalten werden. Bei Beendigung einer Reise wurde dieses Dokument von einem Amtsarzt eingesehen und abgezeichnet. Unfälle  mussten zudem den Behörden gemeldet werden. Die erforderlichen Einträge im Schiffstagebuch wurden allzu oft von der Wasserschutzpolizei hinterfragt. So war es denn auch nicht verwunderlich, dass bei glimpflich verlaufenen Unfällen auf einen Eintrag verzichtet wurde. Von einem solchen Geschehen soll nun die Rede sein.

Beliebte Beschäftigung für uns Matrosen und Junggrade war das über den 1.Offizier vom Bootsmann befohlene „Farbe waschen“. Mittels Seifenlauge, Schwabbern und Halbmonden gingen wir dem Schmutz zu Leibe. Bei einer dieser Waschtage im winterlichen Antwerpen durfte ich mit einem spanischen Kollegen die Außenbordswand mit Hilfe einer ausgebrachten Stellage reinigen. Eimer mit der Seifenlauge und das schon erwähnte Handwerkszeug wurden auf dieses relativ schmale Brett gestellt, bevor wir unsern luftigen Arbeitsplatz einnahmen. Gegen alle Vorschriften nahm mein Mitarbeiter ungesichert auf der Stellage Platz. Doch selbst mein Sicherheitsgurt konnte es nicht verhindern, dass die morschen Tampen unserer Sitzgelegenheit das Gesamtgewicht von zwei Matrosen nicht halten konnten. Mein spanischer Kollege verschwand mit einem Aufschrei in der Tiefe. Mein Sturz wurde von dem Sicherheitsgurt nur für einen Moment abgefangen. Beim Einrucken brach auch dieser Tampen und ich sauste an der Bordwand abwärts. Das Bad war bei den winterlichen Wassertemperaturen sehr erfrischend und mit ein paar Schwimmzügen erreichten wir das Ruderblatt eines Binnenschiffes, das an unserm Schiff vertäut war. Über eine schnell ausgebrachte Knüppelleiter retteten wir uns schließlich an Bord. Empfangen wurden wir von einem besorgten 1.Offizier, der uns neben einer Flasche Alkohol auch noch den Rest des Arbeitstages schenkte. Die Sorge war wohl mehr Ausdruck seiner Erleichterung, dass dieser Unfall so glimpflich ausgegangen war. Wobei ich selber mehr an eine himmlische Fügung glaubte. Bei der Aufnahme des Unfallprotokolls kam nämlich heraus, dass ich mit dem Spanier Jesus de Rivera das unfreiwillige Bad genommen hatte – und wer kann sonst außer mir behaupten, mit Jesus ins Wasser gefallen zu sein?

Dentist

Zeichnung von Wilfrid Scharfe