Weiterbildung

In punkto Weiterbildung hatten die deutschen Reeder gegenüber vielen Landbetrieben eine Vorbildfunktion. Wobei die Seeberufsgenossenschaften bei vielen Kursen natürlich ein Wörtchen mitzureden hatten. Die Gültigkeitsdauer der Befähigungsnachweise als „Feuerwehrmann“ und „Rettungsbootmann“ brachte es zwangsweise mit sich, dass man dann gut ein bis zwei Wochen das Schiff mit der harten Schulbank tauschte. Wobei der Lehrgang in Neustadt/Schleswig Holstein sehr beliebt war.  Dieses Schulungszentrum der Bundesmarine ist geradezu vorbildlich ausgerüstet. Sämtlich nur erdenkbare Schiffskatastrophen können in dieser Einrichtung simuliert werden. Höhepunkte waren ohne Frage immer die Brandbekämpfung oder auch die Lecksicherung auf einem ausgedienten Übungsschiff ( Hulk ) der Marine. Nur dem theoretischen Teil, Atombombenangriff-Aktentasche über den Kopf stülpen und die Sandkistenspielchen der Militärs konnten wir Leute von der Handelsmarine nichts abgewinnen. Bei den gespielten Fahrten im Konvoi blieb es in unsern Sprechkabinen immer auffallend still. Wir, die Herde ( „Herd to bull“ ), hatten dem Leithammel ( „Bull to herd“ ) nie etwas zu melden. Unser passiver Widerstand bzw. unsere Sturheit trieb den Ausbilder zur Verzweiflung und wir wurden mit der Anmerkung „Vaterlandslose Gesellen“ an die Luft gesetzt.

Die Richtlinien der Europäischen Union bescherten den Seeleuten eine Flut von neuen Angeboten in Sachen Weiterbildung. So durfte ich vor gar nicht langer Zeit an der Seefahrtschule in Leer zum dritten Mal das „Allgemeine Betriebszeugnis für Funker“ ablegen. Es erwies sich also als Irrtum, dass mein erstes, 1968 erworbenes, Zeugnis tatsächlich bis zum Eintritt in das Rentnerdasein Gültigkeit behalten sollte. Dem zunehmenden Terrorismus begegneten unsere Bürokraten in Brüssel natürlich auch mit einem Lehrgang. Nach dem „Crowd and Crisis Management Course“ ist man rein theoretisch bei der Abwehr von Geiselnehmern oder Evakuierung von Menschenmassen bestens gewappnet. Über Sinn oder Unsinn einiger Weiterbildungen kann man sicher trefflich streiten. Die Zweckmäßigkeit einiger Angebote lassen allerdings Zweifel aufkommen. Verständnis habe ich durchaus noch für einen Gabelstaplerlehrgang für Matrosen oder für die Mitarbeiter einer Reedereieigenen Werkstatt. Verdächtig war es in meinen Augen aber schon, wenn ein Reeder seine als solche gemusterten Köche mit einem Kochkurs zu Leibe rückt. Teilnehmer dieser Kurse schweigen sich auch bis heute über den Lehrstoff aus. So ist es dann nicht verwunderlich, dass die wildesten Mutmaßungen geäußert wurden. Über Jahre hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die „Frikadellenschmiede“ lediglich ihren Wortschatz erweitern sollte. Im Anschluss an diesen Lehrgang sollten sie uns dann die üblichen Standardgerichte und die seit Gründung der Reedereien ( Hapag und Lloyd ) existierenden Wurstsorten mit appetitanregenden neuen Namen wieder schmackhaft machen. So ganz von der Hand zu weisen ist dieser Verdacht nicht. Vermutlich waren die an Bord üblichen Bezeichnungen für die Wurstprodukte eines Großlieferanten aus B. in der Chefetage bekannt geworden. „Schlimme Augenwurst“, „Nasskalte“ und „Omas offene Beine“ waren noch die harmlosesten Bezeichnungen – und wegen eintöniger Verpflegung soll es ja schon Meutereien und Revolten gegeben haben.

Wie schon gesagt, über Sinn oder Unsinn solcher Weiterbildungsangebote kann man verschiedener Meinung sein. Die Ingenieure werden einen Elektronik Lehrgang für sinnvoll halten. Der Nautiker die häufigere Wiederholung des medizinischen Lehrgangs begrüßen. Einige Kapitäne täten gut daran den Kursus „Menschenführung“ nicht zu versäumen.

Bei der Einführung dieser Weiterbildungsmöglichkeiten stand ich diesem Angebot abwartend und ein wenig ängstlich gegenüber. Allein der Gedanke vor eventuell abschließenden Lehrgangsklausuren war Grund genug mich erst einmal nicht aus der Deckung hervor zu wagen. Doch alle Zurückhaltung hat mir nichts genützt. Nach Hamburg zitiert, wurde mir im Mutterhaus ( Ballindamm ) vom Personalchef wegen der vielen noch nicht absolvierten Lehrgänge erst einmal gehörig der Kopf gewaschen. Anschließend schickte er mich über einen Paternoster durch Gänge und Zimmerfluchten zu dem Sachbearbeiter für Fortbildung. Der stellte dann entsetzt fest, dass ich noch so ganz „ohne“ war. Ich wurde auf der Stelle zu einer Woche Radarsimulator an die Hochschule für Nautik in Bremen verdonnert. Termine wurden festgelegt und notiert. Ein Hotel „Zum Kuhhirten“ mit Halbpension gebucht. Telefonisch wurde dann noch mein Erscheinen den Bremern mitgeteilt. Meinen geistigen Hochflügen stand nichts mehr im Wege. Doch vorher gab es mit dem anstehenden Urlaub noch eine Gnadenfrist. An diese Wochen erinnere ich mich kaum noch. Wahrscheinlich habe ich mit der Surferclique in der Stammkneipe bei Hans in der Friesenschänke so manchen geselligen Abend verbracht und das kommende Unheil erst einmal verdrängt. Doch unaufhaltsam kam der Tag meiner Abreise näher. Um auch wirklich pünktlich zu sein – der Inselwohnsitz ist bei einem frühen Lehrgangsbeginn schon ein Kreuz – fuhr ich mit meinem alten VW- Käfer schon 24 Stunden vorher ab. Als Zwischenstation hatte ich Leer auserkoren. Ich verbrachte den Abend und die Nacht im Kreise alter Freunde. Es wurde einer dieser Abende, die einem auch ohne den dicken Kopf noch Jahre im Gedächtnis haften bleibt. Die sechs Semester Seefahrtschule in dieser Kleinstadt und die Erinnerung daran erfüllt weit mehr als nur einen Abend mit Geschichten und Gelächter.

In aller Herrgottsfrühe war ich dann am nächsten Morgen auf dem Weg nach Bremen zu meiner „Hinrichtung“. Mit sehr viel kreuzenden Kursen in der Innenstadt – Bremen besteht in der Hauptsache aus Einbahnstraßen – schaffte ich es eine der Weserbrücken und schließlich den Parkplatz der Hochschule für Nautik zu erreichen. Meine „Pünktlichkeitsängste“ verboten es mir vorher noch die Reisetasche in dem für mich reservierten Hotelzimmer abzustellen. Mit Notizblock und Zeichenutensilien bewaffnet schlich ich am mit Grünspan überzogenen Neptun, der den Haupteingang überwacht, vorbei ins Schulgebäude. Natürlich noch viel zu früh. Der Betrieb – damals gab es noch reichlich Seefahrtstudenten – stürzte mich armen Provinzler in einige Verwirrung. Das schier endloslange schwarze Brett hatte unzählige Anschläge mit einer Vielzahl an Angeboten, Aufrufen und Mitteilungen. Über den Ort meiner fest eingeplanten Fortbildung fand ich trotz eifrigen Studiums nicht einen Hinweis. Selbst die Vitrinen mit den Gerätschaften für die Astronomie wurden verstohlen auf versteckte Fingerzeige kontrolliert. Heimatliche Geborgenheit durchflutete mich für einen kurzen Moment, als ich feststellte, dass die Nachbildungen historischer Winkelmessgeräte von einem Tischlermeister (Dorenbusch) aus Norderney gefertigt worden waren. Schließlich habe ich mit dem Mut der Verzweiflung die Räume des Hausmeisters aufgesucht und dieses mausgraue, völlig überlastete Wesen nach Etage und Raum gefragt. Vielleicht erschien er mir in meiner Unbeholfenheit und Verlegenheit auch nur hektisch und überarbeitet. Seine Auskunft war auch nicht völlig befriedigend, aber es war immerhin schon etwas. Ich bekam eine vier oder fünfstellige Zahl genannt, die einem Eingeweihten wahrscheinlich einen ganzen Roman erzählt. Für meinen Teil habe ich von Zahl zu Zahl  (bzw. Ziffer zu Ziffer)  auf diese Weise den ganzen Komplex erkundet. Ich störte Klausuren, platzte in Filmvorführungen und verschaffte mir Zugang in die Finsternis des Planetariums. Völlig entmutigt kehrte ich zu meinem Ausgangspunkt zurück. Sicher hatte der Lehrgang schon ohne mich angefangen. Die Zeit drängte, zumindest plötzlich. Voller Erleichterung gewahrte ich in der Eingangshalle noch ein paar Unentschlossene. Welch ein unverhofftes Glück, nun in die Anonymität einer Gruppe untertauchen zu können. Die Antwort auf meine Frage war ungeheuer beruhigend, auch sie waren Lehrgangsteilnehmer. Man stellte sich vor, Reedereien, letztes Fahrtgebiet und Namen schwirrten hin und her, die ersten Kontakte bis zum Erscheinen eines Dozenten. Auf Grund meiner Exkursion war mir der Weg zu dem zugewiesenen Unterrichtsraum schon fast vertraut. Dezentes Gerangel um die hintersten Plätze, und mit einem Willkommensgruß an die Herrn Lehrgangsteilnehmer begann erst einmal der übliche Papierkrieg einer Schulbehörde. Schon während der Begrüßung war mir ein kleiner Versprecher des Dozenten aufgefallen. Sprach der gute Mann doch von sechs Wochen statt sechs Tagen, in denen wir uns menschlich näher kommen sollten. Stutzig machte mich auch der Umfang der Formulare und Unterrichtsunterlagen, welche sich nach und nach vor meinem Platz auftürmten. Die auszufüllenden Zeilen und die vielen ziemlich unverständlichen Fragen stürzten mich in einige Verwirrung. Immer mehr Papiere stapelten sich vor mir auf. Ganz langsam stieg ein schrecklicher Verdacht in mir auf. Die letzte fürchterliche Gewissheit brachte eine unverfängliche Frage an meinen Tischnachbarn. Ich saß im Seminar für Ausbildungsoffiziere.

Von dem Gang zur Toilette bin ich nie zurückgekommen.

Wie von Furien gehetzt verließ ich diese Stätte des Grauens. In der Eingangshalle entfaltete ich in wilder Hast meinen Lehrgangsbescheid, ich hatte meine so dringende Fortbildung um einen Monat zu spät angetreten.

Trost und diebische Freude hat mir im Nachhinein das Rätselraten um mein Verschwinden bei den anderen Lehrgangsteilnehmern bereitet.

Nachtrag: Weder auf der Insel noch bei der Reederei ist dieser erste geplatzte Anlauf in das Lager der Fortgebildeten so ganz richtig geschildert worden. Ob denn die Ausrede mit der einwöchigen Krankheit geglaubt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.